"Es kommen nur gescheite Leute"

1938 ist sie als 18-Jährige nach Kolumbien ausgewandert. Ihr Bruder war den Nazis schon kurz davor hierher entkommen, weil Kolumbien eines der wenigen Länder war, das noch Visa an jüdische Flüchtlinge vergab. Mit 25 Dollar in der Tasche nahm sie in Medellin ihren ersten Job an; lernte ihren Mann, einen emigrierten Österreicher, kennen und baute mit ihm eine kleine Buchhandlung für deutsche und englischsprachige Bücher zu dem Intellektuellen- und Künstlertreff Bogotas aus.
Lilly Ungar und die "Libreria Central" sind in Bogota nach wie vor eine Institution.
Sonntagabend suchte Bundespräsident Heinz Fischer gemeinsam mit seiner Frau Margit und Justizminister Wolfgang Brandstetter die hellwache 95-Jährige in ihrem Haus auf. Nicht nur, um die mit 26.000 Bänden mutmaßlich größte deutschsprachige Privatbibliothek außerhalb Österreichs zu bewundern, sondern auch, um Lebensleistung und Haltung der Emigrantin Respekt zu erweisen.
Zwei Jahre nach Kriegsende besuchte sie gemeinsam mit ihrem Mann Hans erstmals wieder Freunde in Wien und stieg danach 40 Jahre lang einmal jährlich im Graben-Hotel in der Wiener Dorotheergasse ab. Die Familie ihres Mannes besaß bis zur Enteignung durch die Nazis ein Pelz- und Modegeschäft am Kohlmarkt. Hans Ungar war "zu stolz, Wiedergutmachung zu beantragen", sagt Lilly Ungar: "Denn was die Nazis ihm und seiner Familie angetan haben, könnte man nicht mit Geld aufwiegen."
Hans Ungar war über die Buchhandlung und deren Filialen mit seinen Radio- und TV-Sendungen über Literatur bald jedem Schulkind geläufig. Seit seinem Tod 2004 war Lilly Ungar nicht mehr in Österreich, hält mit der Heimat ihrer Kinder- und Schultage aber weiter via Zeitungen Kontakt. Heinz Fischer kam dem langsamen Postweg zuvor und brachte ihr die jüngste Ausgabe des profil mit, das sie nach wie vor wöchentlich bezieht und liest.
Die Absolventin des Gymnasiums in der Wiener Wenzgasse steht nach wie vor jeden Tag selber in ihrer Buchhandlung, um Kunden zu betreuen. "Das macht mir Freude", sagt die 95-Jährige: "Denn das Angenehme an einer Buchhandlung ist, dass nur gescheite Leute kommen."
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