Lampedusa: Überlebende im Visier der Justiz

Vor der Küste Lampedusas haben am Samstag Fischer der Opfer der Flüchtlingstragödie gedacht, die mehrere Hundert Menschen das Leben gekostet haben dürfte. Ein mutmaßlicher Schlepper, der sich unter den Überlebenden befunden hatte, wurde festgenommen. Dass auch Ermittlungen gegen die Überlebenden der Katastrophe geprüft werden - ihnen wird vorgeworfen, gegen das Migrationsgesetz verstoßen zu haben - sorgte in Italien für Aufregung.
Die Fischer fuhren mit vier Booten zu der Stelle, an der am Donnerstag das Schiff mit bis zu 500 Flüchtlingen an Bord gesunken war. Im Gedenken an die Opfer warfen sie Blumengebinde ins Meer. "In Erinnerung an jene, die auf dem Meer starben", war auf einem zu lesen.

300 Tote befürchtet
Die Behörden gehen davon aus, dass bei dem Unglück mindestens 300 afrikanische Flüchtlinge ertrunken sind. Am Freitagabend wurde auf Lampedusa eine Messe gelesen, anschließend folgte ein Fackelzug zu Ehren der Opfer, an dem sich Tausende Menschen beteiligten.
Einen Erfolg konnten die ermittelnden Staatsanwälte der sizilianischen Stadt Agrigent erzielen, die mit der Befragung von Überlebenden feststellen wollten, ob sich unter ihnen Schlepper befinden, die die Überfahrt von Libyen nach Lampedusa organisiert hatten. Ein 35 Jahre alter Tunesier wurde festgenommen. Ihm wird mehrfache fahrlässige Tötung vorgeworfen. Er beteuert seine Unschuld.
Strafe für Überlebende?

"Es ist skandalös, dass Ermittlungen gegen Migranten aufgenommen werden, die eine derartige Tragödie überlebt haben", kommentierte der Chef der Linkspartei SEL, Nichi Vendola, diese Entwicklung.
"Damm gegen die Migranteninvasion"
Seit dem Flüchtlingsunglück tobt in Italien eine heftige Diskussion um das geltende Migrationsgesetz, das für illegale Einwanderung sogar Haftstrafen vorsieht. Das Gesetz war vom Gründer der Lega Nord, Umberto Bossi, mit dem Ex-Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Gianfranco Fini, entworfen worden. Bossi verteidigte sein Gesetz als "Damm gegen die Migranteninvasion".
Die Flüchtlingswelle in Richtung Süditalien macht ungeachtet der Tragödie vor Lampedusa nicht Halt. Am Samstag traf ein Boot mit 120 Syrern unweit von Capo Passero nahe der sizilianischen Stadt Syrakus ein. An Bord befanden sich mehrere Kinder. Zwei erschöpfte Flüchtlinge mussten behandelt werden.
Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crepeau, hat nach dem Flüchtlingsdrama vor der italienischen Insel Lampedusa die europäische Einwanderungspolitik kritisiert. "Diese Toten hätten vermieden werden können", sagte Crepeau am Donnerstag vor der UN-Vollversammlung in New York. Die illegale Einwanderung könne nicht "ausschließlich mit repressiven Maßnahmen" bekämpft werden, sagte der kanadische Jurist. Dieses Vorgehen verstärke nur die Macht der Schlepper.
Crepeau rief die Staatengemeinschaft dazu auf, die Möglichkeiten für eine legale Einwanderung auszubauen. Sanktionen müssten nicht die Flüchtlinge treffen, sondern beispielsweise die Arbeitgeber, die illegale Einwanderer beschäftigten. Dies werde jedoch aus "politischen Beweggründen" unterlassen. In den Aufnahmeländern müsse die "Vorstellung von Vielfalt und Multikulturalität" akzeptiert werden.
Rom will Friedensnobelpreis für Lampedusa
EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Durao Barroso die Mittelmeerinsel besuchen. „Barroso muss klar sein, dass Lampedusa die südlichste Grenze Europas ist. Italien wird beim Treffen zwischen Barroso und den europäischen Innenministern mit stärkstem Nachdruck das Thema Migration ansprechen“, sagte der italienische Innenminister Angelino Alfano. Die Regierung in Rom wolle zudem die Kandidatur der Bewohner Lampedusas für den
Friedensnobelpreis für ihr unermüdliches Engagement zugunsten der Flüchtlinge vorschlagen, sagte der Innenminister. „Europa muss die eigene Südgrenze schützen. Wenn man verhindern will, dass nationalistische Strömungen zunehmen, muss sich Europa für seine Grenze einsetzen“, meinte Alfano. Er rief Brüssel auf, der EU-Grenzschutzeinheit Frontex mehr Mittel zur Verfügung zu stellen.
Der Präsident des EU-Parlaments, Martin Schultz, meinte, dass sich Straßburg bei einer Sitzung am kommenden Montag mit dem Thema Migration befassen werde. „Italien, Spanien und Malta: Ihre Städte und ihre Inseln müssen sich mit riesigen Dramen auseinandersetzen. Wir müssen diese Staaten bei ihrem Einsatz zur Hilfe der Migranten unterstützen. Die Last für den Schutz der europäischen Grenzen muss von all unseren Ländern übernommen werden“, sagte Schultz im Interview mit der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“.
Inner-italienischer Streit
In Rom hat sich indes scharfe Polemik rund um die Einwanderungspolitik der Regierung entsponnen. Die ausländerfeindliche Oppositionspartei Lega Nord nahm die aus dem Kongo stammende Integrationsministerin Cecile Kyenge ins Visier, die sich in den vergangenen Monaten mit Nachdruck für eine Lockerung des geltenden Einwanderungsgesetzes stark gemacht hatte. Auch die Präsidentin der Abgeordnetenkammer, Laura Boldrini, ehemalige Sprecherin des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR), wurde von der Lega Nord wegen ihrer Appelle zur Aufnahme von Flüchtlingen scharf attackiert.
Kyenge und Boldrini seien für das Drama mitverantwortlich, erlärte der Vizepräsident der Lega-Abgeordnete, Gianluca Pini. "Sie verbreiten heuchlerische Integrationsslogans, statt mit konkreten Taten die Drittweltländer zu unterstützen. Boldrini und Kyenge haben all die in diesen letzten Monaten ums Leben gekommene Migranten auf dem Gewissen", betonte Pini.
Laut Lega-Chef Roberto Maroni haben weder die italienische Regierung noch die EU-Kommission ihre Pflichten in punkto Bekämpfung des Menschenhandels erfüllt. "Sie unternehmen nichts, um die Abfahrt der Flüchtlingsboote aus Nordafrika zu verhindern", protestierte Maroni. Die Lega Nord beschuldigt die EU, Italien bei der Bewältigung des Flüchtlingsnotstands im Stich gelassen zu haben.
Kyenge reagierte scharf auf die Kritik der Lega. "Die Worte des Parlamentariers Pini sind nicht nur eine Beleidigung gegen mich, sie beleidigen auch die Todesopfer", sagte die Ministerin. "Die Attacke der Lega ist unannehmbar", protestierte auch die linke Senatorin Anna Finocchiaro.
Die aus dem Kongo stammende Augenärztin Kyenge wurde seit ihrer Berufung zur Integrationsministerin im April zum Ziel zahlreicher rassistischer Verbalangriffe. Mitte Juli verglich der Lega-Nord-Senator Roberto Calderoli die Ministerin mit einem Orang-Utan. Kyenge wurde später bei einer Veranstaltung mit Bananen beworfen.
"Wir stehen jetzt vor Massakern an Unschuldigen, weshalb sich die internationale Gemeinschaft und vor allem die EU nicht mehr vor der absoluten Notwendigkeit von Entscheidungen und Aktionen drücken kann", sagte Staatspräsident Giorgio Napolitano. Innenminister Angelino Alfano, der selbst nach Lampedusa reiste, forderte: "Wir hoffen, dass die EU wahrnimmt, dass es sich nicht nur um ein italienisches, sondern um ein europäisches Drama handelt".
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