Mittelmeer: Noch nie war die Lage so dramatisch

Brigadier Martin Xuereb leitet die private Rettungsmission Moas auf Malta, die bisher 3000 Personen retten konnte. In seiner 26-jährigen Militärkarriere war der Brigadier bei Hilfseinsätzen oft mit dem Tod konfrontiert. Doch nie war die Lage so dramatisch wie derzeit im Mittelmeer. Xuereb warnt vor einer Rekordzunahme an Flüchtlingsopfern.
KURIER: Wie groß ist die Gefahr, dass das zweitgrößte Flüchtlingsdrama im Mittelmeer (seit Oktober 2013) mit mehr als 300 Toten, das sich Anfang der Woche vor der Insel Lampedusa ereignete, der Auftakt eines weiteren Massensterbens im "offenen Grab des Mittelmeers" ist?
Martin Xuereb: Es wird 2015 zu Rekordzahlen an Toten im Mittelmeer kommen. Die eingeschränkte Rettungsmission ist ein Grund dafür. Durch Krieg und Konflikte in Syrien, Irak, Eritrea, Somalia, Sudan sind mehr Menschen als je zuvor auf der Flucht. Aus meiner Sicht handelt es sich um ein globales Problem. Natürlich ist Europa besonders betroffen, weil es sich unmittelbar in seinem "Garten" abspielt. Aber nicht nur Regierungen, sondern auch einzelne Bürger sind aufgefordert, zu handeln. In der Seemannssprache heißt es: "Man braucht alle Hände an Deck". Das gilt auch für das Flüchtlingsphänomen, wo der Einsatz der Zivilgesellschaft gefragt ist.
Welche konkreten Maßnahmen sind nötig?
Politiker sollen bei ihren Entscheidungen nicht nur an Wählerstimmen denken, Regierungen nicht nur an Wirtschaft und Finanzen, sondern auch an den humanitären Aspekt. Die jüngste Tragödie zeigt auch, wie zynisch die Vorwürfe waren, dass Rettungsmissionen noch mehr Flüchtlinge anziehen würden. Migranten sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, weil dort ihr Leben in Gefahr ist. Sie steigen trotz meterhoher See und eiskaltem Wetter in alte Boote, im Wissen, dass die Hilfsmission Mare Nostrum gestoppt wurde. Es ist für sie der letzte Ausweg. Durch die stark reduzierten Such- und Rettungsmaßnahmen vonseiten der EU sind Handels-, Militär- und zivile Schiffe stärker belastet – sie sind aber nicht für Rettungsaktionen ausgerüstet. Die Tragik der jüngsten Katastrophe ist, dass 29 Flüchtlinge an Deck erfroren, nachdem sie gerettet wurden.
Premier Renzi sieht als Hauptproblem die außer Kontrolle geratene Lage in Libyen – er meinte, es gehe weniger um ein "Derby zwischen der Rettungsmission Mare Nostrum und EU-Mission Triton, sondern um eine Lösung für Libyen".
Ich sehe das Problem unter einem breiteren Blickwinkel. Das instabile Libyen ist natürlich ein Risikofaktor. Aber wir dürfen die Kriege in Syrien, die Konflikte in Palästina und Subsahara-Afrika nicht vergessen. Wenn Leute genug zu essen haben, ein Dach über dem Kopf und in Sicherheit leben können, wird niemand flüchten. Solange das nicht gegeben ist, werden Leute alles daransetzen, sich in Sicherheit zu bringen. Und dabei auch nicht vor der lebensgefährlichen Überfahrt im Mittelmeer zurückschrecken. Wir müssen bei den sogenannten "Push-Faktoren", also was Leute zur Flucht treibt, wie Krieg, Hunger, Armut, hohe Arbeitslosigkeit ansetzen.
Mehr Herz und weniger Angst sind gefragt?
Wir müssen endlich Flüchtlinge als Menschen und nicht als Nummern sehen. Frauen, Männer, Kinder, Babys mit den gleichen Hoffnungen und Ängsten, die aus Ländern fliehen, wo nicht nur ihre Zukunft, sondern ihr Leben in Gefahr ist. Im Leben jedes Menschen gibt es nur wenige Sekunden nach der Geburt, wo jeder gleich ist. Dann entscheiden die Umstände, in die er hineingeboren wird.
Spendenfür das private Projekt MOAS sind willkommen: www.moas.eu
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