Ferguson-Effekt: Proteste in 170 US-Städten

In Ferguson selbst verlief die Nacht zwar ruhig, dafür schwappt die Welle des Protests nun auf andere Landesteile über: In gut 170 Städten kam es zu Kundgebungen, in New York gingen in der Nacht auf Mittwoch Tausende Menschen auf die Straße. "Schickt den rassistischen Polizisten ins Gefängnis", riefen die Menschen, die gegen die ausgebliebene Anklage des Todesschützen von Michael Brown protestierten. Auch in Los Angeles gab es Proteste, laut lokalen Medien wurden 130 Menschen festgenommen. Auch in Atlanta, Boston, Denver und Dallas gab es Proteste, wie der TV-Sender CNN berichtete.
In der Kleinstadt selbst, wo der unbewaffnete schwarze Teenager vor drei Monaten von dem weißen Polizisten Darren Wilson niedergeschossen worden war, versammelten sich nachts erneut zwischen 200 und 300 Menschen vor der Polizeistation. Als die Polizei die Menge aufforderte, die Straße zu räumen, kam es nach Angaben eines Reporters zu mindestens zwei Festnahmen, jeoch zu keinen weiteren Ausschreitungen. In der Nacht auf Dienstag waren schwere Unruhen ausgebrochen. Es gab Plünderungen, Häuser wurden in Brand gesetzt. Auslöser war die Entscheidung einer Geschworenenjury, dass Darren Wilson nicht angeklagt wird.
Keine Schüsse in den Rücken

Zeugen hatten berichtet, dass Brown wehrlos gewesen sei, seine Hände gehoben und der Polizist ihm in den Rücken geschossen habe. Doch viele dieser Aussagen seien falsch gewesen, sagt der Staatsanwalt. Brown habe keine Schussverletzungen im Rücken gehabt.
Darren Wilson im TV-Interview
Wilson meldete sich erstmals öffentlich zu Wort. Er bedauere den Tod Browns, würde aber nicht anders handeln, sagte Wilson dem TV-Sender ABC. Er habe im August um sein Leben gefürchtet und nur seinen Job getan. Er habe ein reines Gewissen, fügte Wilson nach Angaben des Senders an. Danach gefragt, ob er auch so gehandelt hätte, wenn Brown weiß gewesen wäre, sagte der Polizist: "Ja, (...) keine Frage."
Um erneute Unruhen in Ferguson zu verhindern, wurde die Nationalgarde in der Kleinstadt massiv verstärkt worden. Es würden 2.200 Soldaten in der Kleinstadt und Umgebung stationiert, sagte der Gouverneur des Bundesstaates Missouri, Jay Nixon. Am Vortag waren es lediglich 700. "Die Gewalt, die wir gesehen haben, darf sich nicht wiederholen".
Obama verurteilte Ausschreitungen
US-Präsident Barack Obama verurteilte die Ausschreitungen und Plünderungen - dafür gebe es keine Entschuldigung. Wer Autos in Brand steckt und Geschäfte plündert, müsse bestraft werden. "Ich habe keinerlei Sympathie für diejenigen, die ihre eigene Gemeinde zerstören", sagte Obama in Chicago. Er verwies aber auch auf Polizeigewalt und juristische Ungerechtigkeit gegenüber Minderheiten in den USA. "Dieses Problem ist nicht ein Ferguson-Problem, das ist ein amerikanisches Problem." Zur Entscheidung der Geschworenenjury äußerte er sich nicht.
Allerdings machte Justizminister Eric Holder klar, dass das juristische Nachspiel noch nicht beendet sei. Zwei laufende Ermittlungen auf Bundesebene gingen weiter. Bei den Verfahren geht es um den Tod des 18-jährigen Brown Anfang August sowie um die Reaktion der Polizei bei darauf folgenden Unruhen.
Die Mutter des erschossenen 18-jährigen Michael Brown, eines Schwarzen, ist geschockt, als sie von dem Gerichtsurteil erfährt: Freispruch für den angeklagten weißen Polizisten Darren Wilson, es sei Notwehr gewesen. „Selbstverteidigung – wovor?“, fragt Lesley McSpadden in die Menge, die sich in der US-Kleinstadt Ferguson versammelt hat. Ihr Sohn war an jenem 9. August unbewaffnet, als ihn ein halbes Dutzend Projektile traf. Tränen rinnen der Frau hinunter, dann beutelt es sie vor Schluchzen. Sie sinkt in den Arm ihres neuen Mannes Louis Head. „Burn this down (brennt das nieder)“, zitiert diesen die New York Times. Es kommt zu Ausschreitungen, auch in anderen US-Städten wird protestiert.
In Ferguson (Missouri) werden Beamte mit Molotow-Cocktails attackiert, Polizeiautos gehen in Flammen auf, Geschäfte werden geplündert. Sicherheitsbeamte setzen Rauchbomben und Tränengas ein, Hubschrauber kreisen über der Stadt. Schüsse fallen. Von wem, ist zunächst unklar. „Das ist nicht, wofür wir hergekommen sind“, ruft ein Demonstrant die Gewaltbereiten zur Friedfertigkeit auf. Ohne Erfolg.
Polizist würde es wieder tun

Der Gouverneur von Missouri reagierte prompt und schickte weitere Nationalgardisten nach Ferguson.
Es herrscht breite Einigkeit darüber, das dieses Urteil – getroffen von neun weißen und drei schwarzen Geschworenen – den latenten Rassismus in den USA widerspiegelt. „Die Leben der Schwarzen zählen nicht“, sagt die 48-jährige Flugbegleiterin Teri Franks, selbst Mutter von vier Kindern, „die ganze Sache bringt mich zum Weinen.“
Tatsächlich haben Schwarze weniger Aufstiegschancen, sind im Schnitt ärmer als Weiße, sitzen in Relation zum Bevölkerungsanteil überproportional im Knast, immer wieder gibt es Übergriffe und Schnellschüsse von weißen Polizisten auf schwarze Bürger. Erst am Wochenende wurde der farbige Tamir Rice, 12, von Beamten auf einem Spielplatz erschossen – er hielt eine Spielzeugwaffe in der Hand.
Die Diskriminierung der Afro-Amerikaner hat sich auch unter Barack Obama, dem ersten schwarzen US-Präsidenten, nicht geändert. In einer Stellungnahme nach dem Urteil, sagte er, dass es ein tiefes Misstrauen zwischen Polizeikräften und Nicht-Weißen gebe. Wörtlich sprach er davon, dass es gelte, „breite Herausforderungen für uns als Nation“ zu bewältigen. Salopp zusammengefasst haben das Demonstranten in Atlanta: „Die Hölle von Ferguson ist die Hölle Amerikas.“
Krawalle in den USA
Protesttag angekündigt
Auch der einflussreiche Bürgerrechtler Al Sharpton hat die systematische Benachteiligung von Afroamerikanern im amerikanischen Justizsystem angeprangert. "Das ist kein Problem von Ferguson", sagte Sharpton am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Ferguson, einem Vorort von St. Louis. "Das ist ein Problem überall im Land."
Sharpton, eine Führungsfigur der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, kündigte einen landesweiten Protesttag am Samstag an. "Wir haben vielleicht die erste Runde verloren, aber der Kampf ist nicht vorbei", sagte er. "Sie haben unsere Herzen gebrochen, aber nicht unser Rückgrat."
Schwarze Sportler empört
Zwei schwarze US-Superstars aus der Welt des Sports meldeten sich ebenfalls zu Wort. Die Tennis-Ikone Serena Williams twitterte: „Beschämend. Was muss noch alles passieren?“ Und die Basketball-Legende Earvin „Magic“ Johnson bekannte: „Ich bin sehr enttäuscht.“
Außergewöhnlich scharf und emotional reagierte ein europäisches Regierungsmitglied: „Wie alt war Michael Brown? 18. Trayvon Martin? 17. Tamir Rice? 12. Wie alt der nächste? 12 Monate? Tötet sie bevor sie groß werden, Bob Marley“, schrieb die schwarze französische Justizministerin Christiane Taubira auf dem Kurznachrichtendienst Ttwitter in Anspielung auf ähnliche Fälle. Der letzte Satz ist eine Zeile des Bob-Marley-Songs „I shot the sheriff“, und er wird eben diesem Sheriff zugeschrieben.
Was viele Menschen in den USA zusätzlich aufregt, sind das Umfeld und die Vita des zuständigen Bezirksstaatsanwalts Bon McCulloch: Dieser unterhält enge Beziehungen zur Polizei, mehrere Verwandte von ihm sind dort beschäftigt. Auch sein Vater war Polizist, er wurde 1964 erschossen – von einem Schwarzen. 26.000 Bürger hatten eine Ablöse des Ermittlers gefordert. Vergeblich.

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