Als Havel noch "eine Null" war

Dobersberg im nördlichen Waldviertel. Der letzte Ort vor dem Übergang nach Tschechien. Einst das Ende der freien Welt - dahinter nur noch Stacheldraht, Minen,
Wachtürme. Jetzt, mehr als zwei Jahrzehnte später, bringt ein großes Schild das Wunder auf den Punkt: "Achtung - keine Grenze". Keine Kontrolle mehr, keine Angst vor Schikanen. Stattdessen freie Fahrt.
Es sind Schauplätze wie dieser, an denen sich die Erinnerung an Vergangenes neu auflädt: An die Schrecken der KP-Diktatur und der Teilung Europas vor unseren Haustüren. Und an die große Wende im Jahr 1989. Als Journalist gehören Grenzüberschreitungen zu meinem Geschäft. Und doch: Prag, Bratislava, Budapest - wie nahe sind sie uns geografisch und wie fern und fremd waren sie uns so lange!
Warnung an Österreich
Dramatisch der Sommer 1968 - und das Freiheitsfieber des "Prager Frühlings". Atemlos verfolgen wir von Wien aus das drohende Strafgericht Moskaus - und schöpfen eine letzte Hoffnung, als die Ostblock-Führer am 15. August mit Bruderküssen eine scheinbare Streitbeilegung besiegeln.
Doch da meldet sich eine Stimme an meinem Telefon: "Lassen Sie sich nicht täuschen - am 21. August wird der ,Prager Frühling' von Sowjetpanzern niedergewalzt." Ich bedanke mich artig - und vermute einen jener "Propheten", die uns immer wieder mit ihren Vorhersagen quälen. Aber die Stimme meldet sich wieder: "Vergessen Sie nicht, noch vier, drei, zwei . . . Tage bis zum Sowjet-Einmarsch." Innerlich lächle ich, ist doch die Prager Führung eben in Urlaub gegangen.
Früher als gewohnt fahre ich am 21. August nach Hause. Als mein Telefon läutet, stürzen die Vermutungen auf mich ein: Das ist wohl der Anruf unseres Nachtredakteurs - und heute ist der 21. August. "Sind die Russen einmarschiert?", frage ich aufgeregt. "Woher weißt du?", fragt der Kollege zurück. "Ja, die Russen sind einmarschiert!" 600.000 Soldaten walzen den "Kommunismus mit menschlichem Antlitz" nieder.
Sechs Zeitungsausgaben machen wir in dieser Nacht - und sitzen dann erschüttert und erschöpft beisammen. Da ist die Stimme wieder am Telefon: "War nicht so falsch, was ich gesagt habe . . ." Mein Versuch, endlich zu erfahren, wer da spricht, scheitert erneut. Am Ende sagt die Stimme: "Übrigens: Am 28. August marschieren die Russen in Österreich ein."
Sieben lange Tage habe ich die Österreicher zu beruhigen - und bin selbst zutiefst beunruhigt. Doch der 28. August geht ereignislos vorbei - die Stimme meldet sich nie wieder.
21 quälende Jahre vergehen, bis der Kommunismus zerfällt - auch in Prag. Mitten im Überlebenskampf wagt Ladislav Adamec, der letzte KP-Premier der CSSR, noch einen Besuch in Österreich - und lädt mich zum Voraus-Gespräch nach Prag. Ich denke mir: Wenn schon Adamec, dann auch
Václav Havel, der große Dichter und Dissident, und Jirí Hájek, der Außenminister des "Prager Frühlings". Still organisiere ich Termine mit beiden.
Eine Staatslimousine bringt mich nach Prag. Um die Zeit zu nützen, nehme ich Havels Buch "Briefe an Olga" für unterwegs mit, verstecke es hinter einem falschen Umschlag - und fühle mich so kühn wie die Beatles, die einst im WC des Londoner Buckingham-Palastes Haschisch geraucht haben, ehe sie der Königin vorgestellt wurden . . .
In Hájeks Häuschen ist es eiskalt. "Sie haben mir die Heizung abgedreht, um ,Installateure' schicken zu können - vermutlich sind die ,Wanzen' in meiner Wohnung defekt", sagt er leise. Wir reden lieber an einer Bus-Haltestelle. Trotzdem wird er nach unserem Gespräch zwei Mal verhaftet und stundenlang verhört.
Kekse bei Olga und Vaclav Dann, oben am Hradschin, wird Premier Adamec ungehalten, als ich wissen will, wie er künftig mit Dissidenten wie Havel und Hájek umgehen wolle: Weiterhin einsperren - oder ist das jetzt schon kontraproduktiv? Adamec' Halsschlagader tritt hervor: "Beide sind Niemande", bellt er, "einfach Nullen." Zwei Mal wechsle ich das Taxi, dann sitze ich bei den Havels zu Hause. Die Wohnungstüre, x-mal eingeschlagen, ist notdürftig zusammengeflickt. Ehefrau Olga bringt Kekse. "Die Führung weiß nicht mehr, was sie mit mir tun soll", sagt Havel. "Jetzt einsperren - ein Fehler! Nicht einsperren - auch ein Fehler." Dass ihn Adamec als "Null" bezeichnet hat? "Ein Riesenfehler!", lacht Havel.
Klarstellung
Meine Interviews mit ihm und mit
Adamec finden offenkundig auch in Prags KP-Zentrale Interesse. Denn: Drei Tage später kommt der Premier nach Wien - und startet seine Pressekonferenz mit Blick auf mich. Sein Urteil über Havel und Hájek hat ihm offenbar nicht gut getan. Also sagt Adamec vor den Kameras zu mir: "Mein Freund, Sie erinnern sich: Ich habe Havel und Hájek als ,Niemande' und ,Nullen' bezeichnet. Ich möchte klarstellen: Natürlich habe ich weder den Dichter noch den Menschen Havel als ,Null' und ,Nichts' qualifiziert. Ich wollte sagen: Havel hat keine politische Funktion bei uns . . ."
Die ganze Ratlosigkeit der KP wird jetzt deutlich. Fünf Wochen später ist Adamec nicht mehr Premier - und Havel Staatspräsident.
Als der Eiserne Vorhang zusammenbricht, macht sich eine kleine Expedition spontan von Wien nach Bratislava auf. Mit dabei auch der Künstler André Heller, der spätere EU-Abgeordnete Hannes Swoboda - und ich. Die Grenze ist wie weggeblasen und Pressburg unglaublich nahe. Das Denkmal für die Sowjet-Soldaten haben Unbekannte rosarot überpinselt.
Wir sind zu einer Spontan-Diskussion in ein Theater geladen. Als wir auftauchen, beginnen Menschen im Publikum zu weinen und wollen uns berühren. "Wir kennen euch alle", sagt einer, "wir haben dort Urlaub gemacht, wo wir den ORF empfangen konnten. Aber wer hätte geglaubt, dass ihr je zu uns kommt!" Welche Aufbruchstimmung! André Heller aber ahnt, wie kurzatmig die Euphorie sein wird: "Die Stunde der Wahrheit kommt erst in ein paar Jahren", sagt er prophetisch.
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