Symptom eines tieferen Problems

Der Kampf gegen das Übergewicht ist für viele ein permanenter
Ernährung. Kalorienzählen reicht oft nicht aus – Was sind die Gründe für zwanghaftes In-sich-Hineinstopfen?

Ich arbeite gerne wissenschaftlich. Da gibt es Regeln, an die man sich halten kann, Checklisten – ähnlich wie im Flugzeug – , die man Punkt für Punkt durchgeht. Damit übersieht man nichts und verhält sich den neuesten Erkenntnissen entsprechend. Prinzipiell führe ich auch meine Ernährungsberatungen auf diese Art und Weise durch, an sich ist Abnehmen nämlich eine einfache Rechnung: Zufuhr minus Verbrauch.

Mehr als Subtraktion

Sie merken schon an den Wörtchen „prinzipiell“ und „an sich“, dass es wahrscheinlich doch nicht diese Subtraktion ausmacht. Wir bestehen nämlich aus mehr als Muskeln, Wasser und Fett. Unser Leben bereichern nicht nur Kalorien, sondern hoffentlich viel mehr. In dieser Woche hat mich eine junge, hübsche, aktive, intelligente Frau zum Nachdenken gebracht. Sie kämpft seit Jahren gegen ihr Gewicht und hat bestimmt schon hundert Kilogramm ab- und wieder zugenommen. Sie weiß, wie es funktionieren würde und hält es nicht durch. Jeden Tag aufs Neue möchte sie sich zügeln, und erlebt die nächste Frustration, wenn sie es nicht schafft.

Diese Frau ist kein Einzelfall, ich kenne dieses Verhalten von vielen meiner KlientInnen und ehrlich gesagt auch von mir selbst. Manchmal greife ich mir an den Kopf und denke: Du hast so viel darüber gelernt, du arbeitest tagtäglich damit, du liebst gesundes Essen, also bitte, warum hast du dich so überhaupt nicht im Griff?! Hin und wieder „auslassen“ schadet perfektionistisch veranlagten Menschen gar nicht, im Gegenteil.

Teufelskreis

Wenn man in einem Gebiet jedoch regelmäßig auslässt, dann entsteht ein Teufelskreis. Geht es ums Gewicht, schießt dieses natürlich unweigerlich nach oben. Aber vor allem die mentale Seite stellt das Problem dar. Mit jedem Scheitern fühlt man sich schwächer und kleiner. Dadurch entsteht Druck. Hört man auch noch von außen, dass man zugelegt habe oder in besserer Verfassung mit ein paar Kilos weniger wäre, erhöht sich dieser Druck.

Dr. Silke Kranz ist Sport- und Ernährungsmedizinerin in Bad Zell.

Kranz: „Das Mentale stellt oft ein Problem dar. Mit jedem Scheitern fühlt man sich kleiner.“

Kontrollverlust

Und irgendwann kommt man in die „Pfeif drauf“-Stimmung und verliert jegliche Kontrolle. Ab hier wird es schwierig. Erstens, weil es mühsam ist, aus diesem Loch wieder herauszufinden. Und zweitens, weil man sich für einen Verlierer hält. Noch nie hat mir jemand berichtet, dass es in dieser Situation genussvoll ist zu schlemmen. Vielmehr ist es zwanghaftes Hineinstopfen und Hinunterschlucken; gepaart mit schlechtem Gewissen und Frust – das kann nicht schmecken. Hier ist der Punkt erreicht, wo ich mit meiner wissenschaftlichen Energieverbrauch- und -zufuhr-Rechnung nicht mehr weiterkomme. Wir sind keine Maschinen, sondern fühlende Lebewesen. Vielmehr sind Fragen angebracht: Was muss ich hinunterschlucken? Was fehlt mir, dass ich permanent etwas füllen möchte? Wofür benötige ich eine Schutzschicht?

Coaching

Als Allgemeinmedizinerin bin ich nicht in der Lage, diese Themen mit den Betroffenen professionell aufzuarbeiten. So hole ich mir noch weitere Personen ins Boot – Psychotherapie, Coaching, aber auch Hypnose können hilfreich sein. Weil das Übergewicht beziehungsweise das Essverhalten oftmals nur ein Symptom eines tieferen Problems darstellt. So bin ich auch mit der jungen Frau verblieben: Wir sind halt jetzt ein größeres Team. Und das darf sie sich auch gönnen, denn es geht um ihr zufriedenes Leben. Ich bin überzeugt davon, dass eine wunderschöne Silhouette bleibt, wenn die Altlasten abgefallen sind.

Silke Kranz ist diplomierte Ernährungs- und Sportmedizinerin und Ärztin für Allgemeinmedizin in Bad Zell, www.sportplusmedizin.at

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