Marinic: „Radikal an demokratischen Werten festhalten“

Jagoda Marinic
„Heutzutage sind selbst die Werte der Französischen Revolution wieder utopisch, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, sagt die Publizistin Jagoda Marinic, die heute, Sonntag, die Festrede der Eröffnung des Linzer Brucknerfestes hält. Von Gerlinde Rohrhofer.

Jagoda Marinić (47) ist eine deutsche Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg. Ihr jüngstes Buch ist „Sanfte Radikalität. Zwischen Hoffnung und Wandel“. Marinic hält heute, Sonntag, die Festrede zur Eröffnung des Linzer Brucknerfestes.

KURIER: Frau Marinić, vorerst eine persönliche Frage: Was bevorzugen Sie, die kleine literarische Form wie zum Beispiel den Aphorismus oder die große Eröffnungsrede bei einem Internationalen Musikfest?

Jagoda Marinić: Die kleine literarische Form liebe ich im Alltag. Eine Festrede hingegen ist das Nicht-Alltägliche, das Besondere. Ich empfinde es als besondere Ehre, ein Ereignis mitzugestalten, auf das so konzentriert hingearbeitet wird, mit dem Ziel, an einem Morgen im Jahr einen gemeinsamen Moment zu schaffen. Sie merken schon, ich möchte beides nicht missen.

Ihr jüngstes Buch hat den Titel „Sanfte Radikalität“. Sie sind das sicher schon oft gefragt worden, ich frage trotzdem nochmals: Ist sanfte Radikalität nicht ein Widerspruch?

Aus dem Widerspruch entsteht ja der Reiz der Auseinandersetzung. Es ist ein Widerspruch, der viele in diesen Zeiten beschäftigt: Wie verteidigen wir die Demokratie, ohne selbst autoritär zu werden? Nichts ist einfacher, als sich in diesen Zeiten zu radikalisieren. Mein Buch stellt die Frage, wie es konkret gelingen kann, trotz der Krisen und den Angriffen radikal an demokratischen Werten festzuhalten. 

Ich biete als mögliche Antwort eine Haltung der „Sanften Radikalität“, die ich im Buch näher beschreibe. Man steht radikal für die Würde des Menschen ein, sorgt für die Erneuerung demokratischer Institutionen, statt die wichtigen Strukturen jenen zu überlassen, die sie am Ende aushöhlen wollen. Gleichzeitig ist es notwendig, bei all dem eine innere Sanftheit zu bewahren. Was bringt es uns, wenn wir am Ende selbst autoritär werden, weil wir vermeintlich nur das Beste wollen. In einer Demokratie gibt es nicht „das Beste“. Der Schwerpunkt verschiebt sich auf die Fähigkeiten, Unterschiede auszuhalten und dabei trotzdem handlungsfähig zu bleiben.

Sie haben unter anderem das Internationale Welcome Center in Heidelberg mit aufgebaut. Ist der Begriff der Willkommensgesellschaft nicht inzwischen fragwürdig geworden?

Der Begriff war ja immer schon unbeholfen. Er entstand damals, um Fachkräfte anzuwerben. Der Lauf der Geschichte schrieb ihm dann andere Bedeutungen zu, wie etwa die Hilfe für Menschen in Not. Wichtiger als der Begriff oder die Moden ist mir das, was in diesem Haus gelungen ist: Heidelberg ist eine Stadt, in der jeder Dritte eingewandert ist. Die Stadtgesellschaft ist so divers wie etwa in Toronto. Durch das International Welcome Center gab es zum ersten Mal eine Plattform, die von der Stadtverwaltung betrieben wurde und auf der alle zusammenkamen, um Projekte umzusetzen, gemeinsame Kulturarbeit zu machen, die Bürokratie der Einwanderung sollte vereinfacht werden.

Es gab ein Podium zu aktuellen Fragen der Migration auf hohem Niveau, sodass die Stadt einen Diskussionsraum hatte. Nach kurzer Zeit war das Haus eine Botschaft geworden: Sie stand für das Internationale in unserer Stadt. Und fürs Machen. Hier gehen jene ein und aus, die ans Gelingen und gemeinsame Machen glauben. Das scheint mir nicht fragwürdig, viel eher frage ich mich, warum demokratische Gesellschaften nicht viel mehr davon haben. Nötig haben wir’s.

Haben Sie eine Utopie von dem, was Gesellschaft idealerweise sein könnte und sollte?

Natürlich habe ich eine Utopie. Wenn nicht mehrere. Heute sind selbst die Ideale der Französischen Revolution wieder utopisch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Als ich mich auf die Festrede für das Brucknerfestival vorbereitete, betrat ich mit Bruckners Musik diesen unendlich weiten Raum seiner Klangwelt. Ist das nicht auch eine Utopie, aus der Enge in diese Weite treten zu dürfen? Die Festrede für das Bruckner-Festival zu schreiben wurde für mich zum Sinnbild für das Betreten großer Innenräume, geistig gesehen: großer Ideen und Utopien.

In diesen Räumen schöpft der Mensch Kraft für die Realität, die immer begrenzt. Um eine lebenswerte Realität zu schaffen, muss das Unmögliche zunächst gedacht werden. So wie einst die Freiheit ein Pfeiler unserer demokratischen Gesellschaften wurde, das wäre früher undenkbar gewesen. Letztendlich interessiert mich an der Utopie das Machbare, das, was jeder Einzelne von uns tun kann, solange er auf Erden ist.

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