„Ich habe mich so hilflos gefühlt“

„Ich habe mich so hilflos gefühlt“
Von Obdachlosigkeit bedroht? Warum das ein Tabu unter Frauen ist und wo es rasche Hilfe gibt

Zwei Zähne fehlen noch immer. Ausgeschlagen, weil das Katzenklo nicht sauber war. Die blauen Flecken am ganzen Körper sind bereits verschwunden. Das drei Monate alte Mädchen sitzt vergnügt auf Rosalias Schoß (Name von der Redaktion geändert, Anm.). Die Frühgeburt war durch massive Gewalt und deren Folgen ausgelöst worden.

Mutig erzählt Rosalia von ihrem schweren Schicksal, und vor allem darüber, wie sie nun in der Sicherheit ihrer eigenen Wohnung wieder zu Kräften kommen kann: „Ich war ein Jahr mit meinem Partner zusammen, er war nie gewalttätig. Auch die Schwangerschaft war gewollt. Dann kam der März dieses Jahres, er war plötzlich viel zu Hause, ein Freund hatte schlechten Einfluss auf ihn, gemeinsam tranken die beiden viel zu viel und viel zu oft Alkohol.“ Und plötzlich ging es los mit Schlägen, Tritten und anderen körperlichen Attacken.

Wohin?

„Anfangs war ich völlig perplex, dass mir das passiert. Ich habe mich geschämt und war einfach nur hilflos. Als er dann mein Baby im Bauch attackierte, wollte ich einfach nur weg. Aber wohin sollte ich denn gehen?“, erinnert sich Rosalia. Eine Freundin brachte sie zur ARGE SIE, einem Projekt der „ARGE für Obdachlose“ (mehr Infos Zusatzbericht unten).

„Die meisten Frauen kommen leider erst zu uns, wenn es schon zehn nach zwölf ist“, sagt Lydia Witzany, Sozialarbeiterin bei ARGE SIE. „Uns stehen neun Übergangswohnungen zur Verfügung, die wir an Frauen vergeben können. Hätte ich 90 Wohnungen, wären sie auch voll.“ Gerade Frauen sind oft von verdeckter, drohender Wohnungslosigkeit betroffen, lassen sich nach außen hin nichts anmerken und suchen erst Hilfe, wenn schon die Nacht auf der Straße droht. „Oft stecken Scheidungen, Trennungen und Gewalt dahinter. Diese Schicksale ziehen sich quer durch alle Bildungsschichten. Frauen sind in ungesunden Beziehungen oft der Blitzableiter.“ An das Angebot von ARGE SIE sind Bedingungen geknüpft: Ein Mal pro Monat kommen Sozialarbeiterinnen in die Wohnung, die Frauen müssen außerdem zu Terminen in der Beratungsstelle erscheinen. Akutversorgung wird nicht angeboten, dafür sich die Frauenhäuser und Notschlafstellen zuständig.

Bei rund 80 Prozent der Frauen, die Hilfe in Anspruch nehmen, stabilisiert sich die Lage: „Man sieht bei vielen, wie sie in ihrem eigenen geschützten Raum durchatmen können und dann Pläne für die Zukunft schmieden“, erklärt Lydia Witzany.

Stabilisierung

In dieser Phase befindet sich derzeit Rosalia: Das Gerichtsverfahren gegen ihren Ex-Partner ist abgeschlossen, die Zeit daheim mit ihrem Baby nutzt sie, um zu überlegen, wie es weitergehen soll: „In der Gastronomie kann ich mit kleinem Kind und keiner Unterstützung wahrscheinlich nicht mehr arbeiten. Ich denke gerade über eine Umschulung nach. Jetzt in dieser Wohnung fühle ich mich stärker und sicher. Stress, Druck und Angst fallen weg.“ Stabilisierung der Lebenssituation, so nennt die Sozialarbeiterin das, „und da sind wir in allen Bereichen sehr kreativ.“

„Ich habe mich so hilflos gefühlt“

Forderung: Leistbares Wohnen

ARGE SIE. Rund 200 wohnungslose bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohte Frauen suchen pro Jahr Rat und Hilfe bei der ARGE SIE. Dabei geht es auch darum, die wirtschaftliche, soziale, gesundheitliche und persönliche Situation der Betroffenen aufzuarbeiten. „Wir gehen das ganze Leben miteinander durch“, bringt es Lydia Witzany, Sozialarbeiterin bei ARGE SIE auf den Punkt. Das große Problem seit Jahrzehnten: leistbarer Wohnraum. „Auf diesem Gebiet passiert einfach nichts. Wir fordern  für sozial schwache und benachteiligte Menschen Wohnungen mit einem Quadratmeterpreis von 7 Euro. Alles andere ist unleistbar.“ Dieser Appell gehe vor allem an die Politik, so Witzany, „denn Wohnen ist ein Grundbedürfnis.“
ARGE SIE (Marienstr. 11, 4020 Linz), 0732/778361, www.arge-obdachlose.at

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