Bilder, die Geschichte schrieben: Die größte private Fotosammlung

Straßenbahn-Oldtimer vor dem Riesenrad, um 1970. Foto: Votava
Einzigartig in Österreich: Verleger Christian Brandstätter kaufte in fünf Jahrzehnten mehr als drei Millionen Fotografien auf.

Die alte Dame war in ihrer Jugend Mannequin gewesen. Und sie saß auf einem Schatz. Besaß sie doch 20 Modebilder, die die berühmte Fotografin Madame d’Ora in den 1920er-Jahren angefertigt hatte.

Christian Brandstätter besuchte die alte Dame in ihrer Villa in Wien-Döbling und kaufte ihr die Fotos ab. Das ist 40 Jahre her, und heute zählen diese Bilder zum Grundstock der größten privaten Fotosammlung Österreichs.

Bilder, die Geschichte schrieben: Die größte private Fotosammlung

Wiener Werkstätte, Mode um 1920. Foto: Madame d’Ora

Eigentlich wollte der heute 76-jährige Christian Brandstätter große Kunst sammeln, aber die konnte er sich in seiner Zeit als Student nicht leisten. Und so kam er „der Not gehorchend“ in den 1960er-Jahren zur Fotografie. „Die ersten Bilder, die ich kaufte, waren Elend- und Verbrecherfotos wie ,Unter der Franzensbrücke“ und ,Wächter im Wienkanal’, die ich damals in Antiquariaten und auf Flohmärkten fand“, erzählt Brandstätter.

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In Schachteln sind die Fotos untergebracht: Archivar Gerald Piffl (links), Sammler Christian Brandstätter

1982 gründete er den angesehenen Christian Brandstätter Verlag, blieb seinem Hobby aber treu und verwaltet bzw. besitzt eine Unzahl von Bildern, darunter von renommierten Fotografen wie Franz Hubmann, Franz Votava, Emil Mayer, Franz Xaver Setzer und eben Madame d’Ora. Es sind mittlerweile mehr als drei Millionen Fotos, Grafiken und andere Bildmedien aus den Bereichen Politik, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Sport. Nur das Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ist noch umfangreicher.

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„Der Herr Karl“, Foto: Hubmann

Historischer Wert

Viele der Bilder des Brandstätter-Archivs haben großen historischen Wert, darunter Originalfotos von Kaiser Franz Joseph, Bilder des „Wunderteam“-Spielers Matthias Sindelar, Schauplätze der nach dem Zweiten Weltkrieg zerbombten Stadt Wien, Bilder der „Trümmerfrauen“ oder Fotografien von der Unterzeichnung des Staatsvertrags.

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„Wunderteam“-Star: Matthias Sindelar, 1932. Foto: Franz Votava

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Kaiser Franz Joseph mit seinem Urgroßneffen, Erzherzog Otto, 1914. Foto: H. C. Kosel (links)

Die Fotos der Sammlung stammen aus den Jahren 1840 bis 2000 und umfassen Papierbilder, Schwarzweiß-Negative, Dias; die ersten Bilder aus dem 19. Jahrhundert sind auf Glas- und Metallplatten gepresst. Betreut wird die Sammlung von Brandstätters Archivar Gerald Piffl, der die Bilder in Tausenden Schachteln, wohlgeordnet und jederzeit griffbereit, aufbewahrt. 160.000 der drei Millionen Fotos sind bereits digitalisiert.

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Politiker

Leopold Figl und Julius Raab

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Das Türschild

Dreifacher Doktor honoris causa: Türschild des niederösterreichischen Landeshauptmanns Figl

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Wien um 1910

Schnappschuss eines Dienstmannes als „Zugtier“ vor dem Palais Liechtenstein in der Wiener Innenstadt. Foto: Emil Mayer

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Bombenschaden in der Tegetthoffstraße in Wien

Zerbombtes Nachkriegs-Wien, im Hintergrund die Augustinerkirche, aufgenommen im Jahr 1945. Foto: Hans Raab

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1938 in Wien

Straßenwaschende jüdische Bürger, März 1938. Foto: Votava

Besonders spannend ist’s, wenn Brandstätter oder sein Archivar beim Studium der Bilder zu neuen historischen Erkenntnissen gelangen. So konnte Gerald Piffl auf einer Fotografie des am 3. April 1936 in Wien gehaltenen Vortrags von Margherita Sarfatti, der Biografin des „Duce“ Benito Mussolini, im Publikum den Dichter Franz Werfel und seine Gemahlin Alma Mahler entdecken. Ein anderes Mal fand er im Archiv des Fotografen Franz Xaver Setzer drei unbekannte Porträts des Schriftstellers Stefan Zweig vor seinem Haus in Salzburg.

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Paola Loew

Die Schauspielerin Paola Loew – Ehefrau des Pianisten Friedrich Gulda – mit Mercedes. Foto: Barbara Pflaum

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Charlie Chaplin als Regisseur

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Stefan Zweig

Entdeckung: Stefan Zweig in Salzburg. Foto: Franz X. Setzer

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Der österreichische Schriftsteller Arthur Schnitzler

Arthur Schnitzler, um 1910. Fotografiert von Madame d’Ora

Bildagentur Imagno

Im Jahr 2002 machte Christian Brandstätter sein Hobby zum Geschäft, als er die Bildagentur Imagno gründete, über die Verlage, TV-Stationen und Zeitungen ihre Fotografien für historische Dokumentationen und Berichte beziehen können (auch ich greife für meine KURIER-Kolumne oft und gerne auf die Bestände der Sammlung zurück). Weiters werden die Bilder an Ausstellungen und Museen verliehen. Dieser Tage erschien im Brandstätter Verlag die Sammleredition „Wien 1900“, in der auf mehr als 500 Seiten Abbildungen aus seiner Fotokollektion, aber auch Reproduktionen wertvoller Kunstwerke von Klimt über Kokoschka bis Kolo Moser zu sehen sind.

Heute ist Imagno weltweit die führende Bilddatenbank zur österreichischen Kunst-, Kultur- und Zeitgeschichte. Seit dem Jahr 2017 werden die Imagno-Bilder über Österreichs größte Bildagentur APA-Picturedesk vertrieben.

Bilder in aller Welt

Einige der 20 Modebilder der Madame d’Ora, die Christian Brandstätter vor 40 Jahren der alten Dame in Wien-Döbling abgekauft hat, sind mittlerweile als museale Ausstellungsstücke um die Weit gereist, sie waren voriges Jahr im Wiener Leopold Museum zu sehen und werden im Frühjahr 2020 in Ronald Lauders Neuer Galerie in New York in einer Madame d’Ora-Ausstellung gezeigt.

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