Medizinnobelpreis 2022 für Evolutionsforscher Svante Pääbo
Der schwedische Forscher Svante Pääbo erhält den diesjährigen Medizin-Nobelpreis für seine über 30-jährige Forschung zum menschlichen Genom. Ausgezeichnet wurde Pääbo "für seine Entdeckungen über die Genome der Vorfahren des modernen Menschen und die menschliche Evolution", hieß es in der Begründung. Pääbo ist Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Ihm war die Sequenzierung des Genoms des modernen Menschen (Homo sapiens) und unserer nächsten ausgestorbenen Verwandten, den Neandertalern und der Denisova-Menschen, gelungen. Seine Forschung helfe, zu verstehen, woher der Mensch abstamme und ist Teil des Fachgebiets der Paläogenetik, von welchem Pääbo als Begründer gilt. Paläogenetiker befassen sich mit der Erforschung altertümlicher Überreste von Lebewesen und ziehen daraus Rückschlüsse auf den Verlauf der Evolution. Früheres Wissen basierte allein auf archäologischen Funden wie Knochen und Artefakten, viele wissenschaftliche Fragen blieben aber unbeantwortet.
Pääbos Arbeit zur genetischen Analyse prähistorischer DNA zeige jedoch, von wo der heutige Mensch abstamme und wie die menschliche Evolution verlaufen ist. Anna Wedell, Professorin für medizinische Genetik am Karolinska-Institut in Solna, Schweden, sagte, dass die Ergebnisse von Dr. Pääbo "es uns ermöglichen, eine der grundlegendsten Fragen überhaupt zu beantworten: Was macht uns einzigartig?"
Erbgut des Neandertalers entschlüsselt
Svante Pääbo und sein Team entschlüsselten zwischen 2010 und 2014 das Erbgut des Neandertalers. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass moderne Menschen vor rund 50.000 Jahren mit Neandertalern zusammentrafen und gemeinsamen Nachwuchs zeugten. Pääbo konnte einen "Genfluss" von den Neandertalern zum Homo sapiens nachweisen: "Damit konnte er demonstrieren, dass sie gemeinsame Kinder hatten in der Zeit, in der sie gemeinsam auf der Erde lebten."
Im Genom heutiger nicht-afrikanischer Menschen finde sich zwei Prozent Neandertaler-DNA. Bereits Mitte der 1990er Jahre hatte der schwedische Forscher nachweisen können, dass die Neandertaler nicht die direkten Vorfahren der heutigen Menschen sind.
"Svante Pääbo, der diesjährige Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin, hat mit seiner bahnbrechenden Forschung etwas scheinbar Unmögliches geschafft: die Sequenzierung des Genoms des Neandertalers, eines ausgestorbenen Verwandten des heutigen Menschen", so das Nobelkomitee in einer Erklärung. "Pääbos Entdeckungen haben zu einem neuen Verständnis unserer Evolutionsgeschichte geführt." Diese Forschung habe dazu beigetragen, die aufkeimende Wissenschaft der Paläogenetik sowie die Untersuchung des genetischen Materials prähistorischer Krankheitserreger zu etablieren.
Nil-Göran Larsson, Professor für medizinische Biochemie am Karolinska-Institut in Stockholm, sagte, Pääbo habe bestehende Technologien und seine eigenen Methoden genutzt, um die prähistorische DNA zu extrahieren und zu analysieren. "Es wurde sicherlich als unmöglich angesehen, DNA aus 40.000 Jahre alten Knochen zu gewinnen", sagte Larsson.
Pionier der Paläogenetik
Pääbo studierte an der Universität von Uppsala Ägyptologie und Medizin. Als Doktorand wies er nach, dass DNA in altägyptischen Mumien überdauern kann. Damit wurde er zum Pionier des neuen Forschungsgebiets der Paläogenetik. Nach Stationen im kalifornischen Berkeley und in München ging er 1997 an das neu gegründete Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Pääbo machte im Rahmen seiner Forschungen die sensationelle Entdeckung eines bisher unbekannten Hominiden, den sogenannten Denisova-Menschen, und fand auch heraus, dass ein Gentransfer von diesem auf den Homo sapiens nach der Migration aus Afrika vor etwa 70.000 Jahren stattgefunden hat, so das Komitee. Der Denisova-Mensch war eng verwandt mit dem Neandertaler und ebenso mit dem Homo sapiens, unterschied sich jedoch genetisch von beiden. Die Entdeckung gelang durch den Vergleich und die Analyse menschlicher Genomsequenzen.
Dieser uralte Genfluss auf den heutigen Menschen hat heute physiologische Bedeutung, zum Beispiel für die Art und Weise, wie unser Immunsystem auf Infektionen reagiert.
Genetischer Risikofaktor für schweren Covid-Verlauf
Svante Pääbo und sein Team zeigten zudem einen genetischen Risikofaktor für einen schweren Krankheitsverlauf von Covid-19, der bereits bei Neandertalern vorhanden war. Sie haben bereits im September 2020 entdeckt, dass die DNA-Sequenz, die mit einem höheren Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 verbunden ist, den DNA-Sequenzen eines etwa 50.000 Jahre alten Neandertalers aus Kroatien sehr ähnlich ist und von Neandertalern stammt.
Es habe sich herausgestellt, dass moderne Menschen diese Genvariante von den Neandertalern geerbt haben, als sie sich vor etwa 60.000 Jahren miteinander vermischten“, sagte sein Kollege Hugo Zeberg vom Max Planck Institut für evolutionäre Anthropologie, im Jahr 2020 in einer Aussendung des Instituts. "Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die diese Genvariante geerbt haben, bei einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 künstlich beatmet werden müssen, ist etwa dreimal höher.“
Bei der Entdeckung von Pääbo handelt es sich um den wichtigsten genetischen Risikofaktor, er befindet sich im menschlichen Genom auf Chromosom 3 und erhöht das Risiko, nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 künstlich beatmet werden zu müssen oder zu sterben, deutlich.
Unterschiedliche Verteilung
Es gebe erhebliche Unterschiede hinsichtlich der regionalen Verbreitung dieser genetischen Variante, sagte Pääbo bereits im Jahr 2000 bei der Präsentation der Daten. Besonders häufig findet sie sich demnach bei Menschen in Südasien, wo etwa die Hälfte der Bevölkerung sie im Genom trage, in Bangladesch sogar 63 Prozent. In Europa habe etwa einer von sechs Menschen (rund 16 Prozent) sie geerbt - in Afrika und Ostasien komme die Variante hingegen so gut wie gar nicht vor.
Eine Erklärung dafür, warum Menschen mit der Genvariante ein höheres Risiko haben, gebe es bisher nicht. "Es ist erschreckend, dass das genetische Erbe der Neandertaler während der aktuellen Pandemie so tragische Auswirkungen hat", sagte Pääbo damals. "Warum das so ist, muss jetzt so schnell wie möglich erforscht werden."
"Seine Arbeiten haben unser Verständnis der Evolutionsgeschichte der modernen Menschen revolutioniert", so Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. So habe Svante Pääbo zum Beispiel nachgewiesen, dass Neandertaler und andere ausgestorbene Hominiden einen wesentlichen Beitrag zur Abstammung der heutigen Menschen geleistet haben.
"Godfather der Alten-DNA-Forschung"
"Svante Pääbo ist der 'Godfather' der alten DNA für uns", sagte Ron Pinhasi vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien am Montag zur APA. Die Zuerkennung des Medizin-Nobelpreises an den schwedischen Evolutionsgenetiker ist für den Wissenschafter, der bereits mehrere Forschungsvorhaben mit Pääbo durchgeführt hat, "völlig verdient". Der nunmehrige Nobelpreisträger habe das Forschungsfeld zu dem gemacht, was es heute ist, so Pinhasi.
"Als Alte-DNA-Forscher kann ich an keine passendere Person denken, die das Feld repräsentiert." Pääbo sei ein "herausragender Forscher" und trotz seines Status nahbar, erklärte Pinhasi. Pääbo habe über viele Jahrzehnte an seiner Vision gearbeitet und sei auch heute noch hoch aktiv.
Der heurige Preisträger besteche durch seine Innovations- und Experimentierfreude, Bodenhaftung, aber auch durch seine Zielstrebigkeit und mitunter Strenge. Er habe eine klare Vision, von der er sich auch durch Rückschläge nicht abbringen ließ. So habe Pääbo etwa auf dem Weg zur Isolierung der DNA von ägyptischen Mumien in den 1980er-Jahren auch einmal unbeabsichtigt sein eigenes Erbgut analysiert. Trotz solcher Episoden habe er immer weiter gemacht.
Pääbo sei auch immer in der Lage gewesen, seinen Fokus zu verändern, wenn es notwendig ist. "Auch das macht Wissenschaft aus", so Pinhasi. Der Neo-Nobelpreisträger sei das Unterfangen, mit seinem Team die DNA des Neandertalers zu entschlüsseln, ähnlich angegangen wie das "Human Genome Project" (HGP) - "allerdings ein großes Stück kleiner", sagte der Professor für Biologische Anthropologie. Das habe damals keine andere Gruppe zuwege gebracht. Gleichzeitig habe er mit seinem Hintergrund als Biologe den Blick auf die dahinterliegenden größeren Fragen gerichtet. Das führte dann auch zu der Identifikation des Denisova-Menschen - rein auf Basis von Genanalysen.
Als Wissenschafter sei Pääbo ohne "Sensationslust" und mit einer großen "Ernsthaftigkeit" an die Sache herangegangen. Zunächst lag der Fokus auf der Extraktion und Entschlüsselung des Genoms selbst, in der Folge leitete man die evolutionären Begebenheiten ab, die die neuen Entdeckungen erlaubten. Pääbo habe nicht nur das Erbgut aufgearbeitet, sondern es "auch auf ein Level gebracht, dass man es nutzen und vergleichen kann. Das ist es, warum er meiner Meinung nach den Preis bekommen hat", sagte Pinhasi.
Die Erkenntnisse über das genetischer Erbe der Vorfahren des modernen Menschen würden heute intensiv genutzt. So zeigte Pääbo u.a. auch, dass gewisse Neandertaler-Gene eher schützend im Zusammenhang mit Covid-19- und HIV-Infektionen wirken. "Das zeigt den Wert dieser Genome", betonte Pinhasi, der Pääbo attestiert, die Erforschung des Erbguts der menschlichen Spezies bis zu einem gewissen Grad neu begründet zu haben. Spreche man in Vorlesungen über die Grundlagen des Bereichs, komme man an dem 67-Jährigen nicht vorbei.
Erste Reaktion
Pääbo wurde am 20. April 1955 in Stockholm geboren. Er ist der Sohn des Biochemikers Sune Bergström, der 1982 den Medizinnobelpreis erhielt, und der estnischen Chemikerin Karin Pääbo. Er wuchs in seiner Geburtsstadt Stockholm auf. Er forscht derzeit in der deutschen Stadt Leipzig. Dort ist er Direktor und wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie.
Pääbo erfuhr in Leipzig von seiner prestigeträchtigen Auszeichnung. Er sei am Telefon "überwältigt, sprachlos und sehr froh" gewesen, berichtete der Sekretär der Nobelversammlung des Stockholmer Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann. Pääbo habe gefragt, ob er jemandem vor der Verkündung von der Auszeichnung erzählen dürfe. Er habe ihm dann gesagt, dass es in Ordnung sei, seiner Ehefrau davon zu berichten.
Die Dotierung beträgt 2022 ebenso wie im Vorjahr zehn Millionen Kronen (rund 920.000 Euro). Mit der Bekanntgabe eröffnete das Komitee die diesjährige Nobelpreis-Woche.
Die begehrten Preise werden seit 1901 in den Kategorien Physiologie/Medizin, Physik, Chemie, Literatur und Friedensbemühungen vergeben. Das Preisgeld stammt aus dem Vermögen des schwedischen Erfinders und Industriellen Alfred Nobel. Die eigentliche Verleihung der Preise erfolgt am 10. Dezember, Nobels Todestag. Die Nominierung der Preisträger erfolgt jedes Jahr streng geheim.
Wer den Preis bisher erhielt
Der Medizin-Nobelpreis wird seit 1901 verliehen. Die erste Auszeichnung ging einst an den deutschen Bakteriologen Emil Adolf von Behring für die Entdeckung der Serumtherapie gegen Diphtherie. Die Preisträger der vergangenen Jahre waren:
2021: US-Forscher David Julius und Ardem Patapoutian aus dem Libanon erhielten den Nobelpreis für ihre Entdeckungen der menschlichen Rezeptoren für Temperatur- und Berührungsempfinden.
2020: Harvey J. Alter (USA), Michael Houghton (Großbritannien) und Charles M. Rice (USA) wurden für die Entdeckung des Hepatitis-C-Virus ausgezeichnet. Ihre Forschungen waren Grundlage für die Entwicklung von Medikamenten.
2019: Die US-Zellforscher William Kaelin und Gregg Semenza und ihr britischer Kollege Peter Ratcliffe erhielten den begehrten Preis für ihre Entdeckungen zu der Frage, wie Zellen unterschiedliche Sauerstoffmengen messen und sich daran anpassen können.
2018: Der US-Forscher James Allison und der japanische Wissenschafter Tasuku Honjo teilen sich den Nobelpreis für Physiologie und Medizin in Anerkennung ihrer Entdeckungen über Immuncheckpoints, die zur modernen Immuntherapie gegen Krebserkrankungen führten.
2017: Die US-Forscher Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young für die Erforschung der biologischen "Inneren Uhr" von Organismen.
2016: Der Japaner Yoshinori Ohsumi, der das lebenswichtige Recycling-System für Proteine in Zellen entschlüsselt hat.
2015: Die Chinesin Youyou Tu, die den Malaria-Wirkstoff Artemisinin entdeckt hat. Sie teilte sich den Preis mit dem gebürtigen Iren William C. Campbell und dem Japaner Satoshi Omura, die an der Bekämpfung weiterer Parasiten gearbeitet hatten.
2014: Das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser sowie John O'Keefe (USA/Großbritannien) für die Entdeckung grundlegender Strukturen des Orientierungssinns des Menschen.
2013: Thomas Südhof (gebürtig in Deutschland) sowie James Rothman (USA) und Randy Schekman (USA) für die Entdeckung von wesentlichen Transportmechanismen in Zellen.
2012: Der Brite John Gurdon und der Japaner Shinya Yamanaka für die Rückprogrammierung erwachsener Körperzellen in den Embryonalzellen.
2011: Bruce Beutler (USA) und Jules Hoffmann (Frankreich) für Arbeiten zur Alarmierung des angeborenen Abwehrsystems. Ralph Steinman aus Kanada entdeckte Zellen, die das erworbene Immunsystem aktivieren. Er war kurz vor der Verkündung gestorben und bekam den Preis posthum.
2010: Der Brite Robert Edwards für die Entwicklung der Reagenzglas-Befruchtung.