Das Fahrrad könnte zum Krisengewinner werden
Ab dem späten Nachmittag staut es sich in der Leipziger Karl-Liebknecht-Straße. Das liegt aber nicht am Autoverkehr, sondern an der langen Menschenschlange vor dem Bike Department Ost. „Land unter“, beschreibt Radladen-Inhaber Gerd May die Situation seit der Wiedereröffnung am 20. April. Weil sich aufgrund der Abstands- und Hygienebestimmungen maximal 20 Kunden zeitgleich im Geschäft aufhalten dürften, müsse man beim Radkauf eine Extraportion Geduld mitbringen.
„Jetzt kommen alle die, die ohne Corona seit März da gewesen wären“, meint der Chef von 25 Mitarbeitern, die nun mit Mund-Nasenschutz arbeiten.
Gestörte Lieferketten
Für die Branche sind der März und April die wichtigsten Monate, vergleichbar mit dem Weihnachtsgeschäft im übrigen Handel. Dieses Jahr aber verdarb die Corona-Krise den Saisonstart: Die unmittelbaren Auswirkungen durch gestörte Lieferketten und geschlossene Läden während des Shutdown seien auch in der Radbranche heftig gewesen, erklärt der Verband des Deutschen Zweiradhandels. Die Umsatzeinbußen lagen demnach coronabedingt bei 30 bis 60 Prozent. Nun sei aber überall eine Aufholjagd zu beobachten.
„Wir sehen derzeit einen enormen Run auf die Fahrradläden. Ohne von einem Gewinner der Krise reden zu wollen, muss man festhalten, dass das Fahrrad gerade einen besonderen Moment erlebt“, bestätigt David Eisenberger, Leiter Marketing und Kommunikation beim Zweirad-Industrie-Verband, der etwa 100 Unternehmen der Fahrradindustrie vertritt. Neben denen, die ohnehin eine Neuanschaffung geplant hätten, gebe es auch viele Kunden, die das Rad für sich wieder entdeckten. Das zeige nicht zuletzt die gestiegene Nachfrage im Einsteigersegment ab 300 Euro.
34 Prozent mehr
Die Branche ist schon länger im Aufwind. Im vergangenen Jahr erzielte sie mit Fahrrädern und vor allem dem immer beliebteren E-Bikes gut 4,2 Milliarden Euro Umsatz - 34 Prozent mehr als im Vorjahr. Zudem tendierten die Verbraucher zu hochwertigeren Rädern, so Eisenberger. Der Durchschnittspreis lag 2019 über alle Vertriebskanäle bei 982 Euro und damit rund ein Drittel höher als 2018. Bundesweit arbeiten rund 280 000 Menschen in der Fahrradwirtschaft.
Mit einem blauen Auge
Inwiefern die Hersteller den teilweisen Stillstand der Produktion über einen Zeitraum von bis zu acht Wochen ausgleichen könnten, sei nicht absehbar. Trotz der schmerzhaften Einbußen zum Saisonstart sei man inzwischen optimistisch, mit einem „blauen Auge“ davonzukommen. Ein Risiko bleibe jedoch eine zweite Infektionswelle und damit ein neuerlicher Shutdown für Produktion und Handel.
Beim Traditionshersteller Diamant im sächsischen Hartmannsdorf läuft die Fertigung unter Einhaltung von Mindestabständen und zahlreichen weiteren Hygienemaßnahmen. Man habe die Produktion in dem Werk mit 500 Mitarbeitern nicht komplett aussetzen müssen, wohl aber Kurzarbeit angemeldet. „Wir haben den Output reduziert und waren natürlich auch über gestörte Zulieferketten aus Asien betroffen“, berichtet Manager Thomas Eichentopf.
Mini-Boom
Er sieht den Trend zum Zweirad durch Corona verstärkt: „Wir erleben gerade einen Mini-Fahrradboom.“ Das Unternehmen, das seit 135 Jahren am Markt ist, habe noch nie so viele Suchanfragen auf der Webseite gezählt wie im April.
Auch der E-Bike-Nachrüster Pendix aus dem sächsischen Zwickau berichtet von einer sehr hohen Nachfrage. „Das Rad ist ein Riesengewinner dieser Zeit“, meint Geschäftsführer Thomas Herzog. Gemeinsam mit vier Freunden entwickelte der Automobilingenieur einen nachrüstbaren Elektroantrieb für Fahrräder. Zur Gründung 2013 habe man sie dafür noch belächelt. Nach eigenen Angaben ist Pendix heute Marktführer in dem Segment, laut ZIV der bekannteste Nachrüster.
Mehr Bedeutung
Angesichts der Vorschriften im öffentlichen Nahverkehr - Stichwort Maskenpflicht - habe insbesondere das Fahrrad mit elektrischem Rückenwind viele Vorteile. Selbst der Autofahrerclub ADAC geht davon aus, dass das Fahrrad neben dem Auto an Bedeutung für den Individualverkehr gewinnen wird.
Ob es aber am Ende tatsächlich als Krisengewinner da steht, hängt vor allem von der Infrastruktur ab, meint der Verbund Service und Fahrrad, der ebenfalls den Fachhandel vertritt. „Infrastruktur ist der Schlüssel zum Erfolg“, sagt Geschäftsführer Albert Herresthal. Schnelle Lösungen wie die „Pop-up-Bike-Lanes“ in Berlin müssten dauerhaft bestehen bleiben.
Autoflut nach Corona?
Auch der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) lobt die Idee, quasi über Nacht mithilfe von Baustellenbaken und Farbstreifen Radwege einzurichten. Auch Düsseldorf wolle nun nachziehen, sagt ADFC-Sprecherin Stephanie Krone. Der wichtigste Verbraucherverband der Radfahrer befürchtet nach dem Ende der Kontaktbeschränkungen „eine ungeahnte Flut von Autoverkehr“, wenn viele Menschen aufgrund der Einschränkungen im ÖPNV lieber wieder aufs Auto setzen. Demnach haben die Bundesbürger 2019 rund 32 Millionen Fahrten mit Bus, Tram oder Bahn zurückgelegt. Pro Tag wohlgemerkt. Wenn nur ein Bruchteil dessen wieder mit dem Auto gefahren werde, drohe ein Super-Stau.
Statt jetzt mit einer Autoprämie das falsche Signal zu senden, müsse der Autoverkehr endlich dem Fahrrad Platz machen und wenn überhaupt eine Mobilitätsprämie für alle auf den Weg gebracht werden - da sind sich die befragten Verbände einig.