Unsicherheit unter syrischen Flüchtlingen
Von Stefan Schocher
Die Geschichten, die sie erzählen, unterscheiden sich nur in Nuancen. Es geht um Tod, Krieg, Explosionen, Panzer im eigenen Vorgarten, abgetrennte Gliedmaßen, Verwandte, von denen keiner weiß, wo sie geblieben sind. Und um die Heimat, die sich in ein Schlachtfeld verwandelt hat. Die Geschichten werden untermalt vom Schluchzen der Mütter, die Söhne, Geschwister oder Eltern verloren haben. Vom Weinen der Väter, die ihre Kinder begraben mussten.
Von denen, die entkamen, haben viele im Libanon Zuflucht gefunden. Offiziell leben hier 90.613 syrische Flüchtlinge. Das ist die Zahl, mit der die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR arbeitet. Aber im Libanon ist die Dunkelziffer extrem hoch – gerade wegen der gemeinsamen Geschichte mit Syrien.
"Die wenigsten lassen sich registrieren – aus Angst", sagt ein Mitarbeiter einer libanesischen Hilfsorganisation. Geschätzt wird, dass im Libanon mindestens 120.000 syrische Flüchtlinge leben. Meist Sunniten. Im sunnitisch dominierten Norden kommen sie in Familien unter. In Beirut verstecken sie sich – vor den Behörden und der schiitischen Hisbollah, die auf der Seite des syrischen Regimes steht.
Von Morden erzählt ein Mann im palästinensischen Flüchtlingslager Shatila bei Beirut, wo sich viele Syrer verstecken – weil weder die libanesischen Behörden noch die Hisbollah Zugriff auf das Lager haben. Eine "Gruppe" hätte ein paar syrische Männer an der Straße als Tagelöhner angeworben, auf einen Lkw gepackt, erschossen und auf eine Mülldeponie geworfen, sagt der Mann. Wer die Gruppe war, ist Gegenstand von Spekulationen hier in diesem Gewirr dunkler Gässchen: Die Hisbollah vielleicht, Kriminelle – eventuell aber Syriens Geheimdienst.
Auf den Marktstraßen zwischen den Betontürmen gibt es Arbeit für Syrer. Ein Lied der syrischen Opposition dröhnt aus einem Gettoblaster: "Gott töte Bashar, Gott töte Bashar." Es geht um Bashar al-Assad, Syriens Präsidenten. Einige Straßenzüge weiter hat die Hisbollah das Sagen. Dort wäre das fatal. Die relative Sicherheit in Shatila aber – jenes Lager, das durch den Massenmord christlicher Milizen an Palästinensern während des Bürgerkrieges Bekanntheit erlangte – hat ihren Preis. 150 Dollar Monatsmiete werden für ein schäbiges Zimmer ohne Tageslicht verlangt. Unterkunft für eine sechsköpfige Familie.
Versteckspiel
Es ist ein Versteckspiel mit Folgen: Für Helfer ist es schwer, die Bedürftigen zu finden. Die alltäglichen Dramen spielen sich oft auf vier mal vier Metern Wohnraum ab. Und nur in Extremfällen tritt die Not sichtbar zu Tage.
Ein Kreisverkehr mit einem Obelisken, an dem Poster von Assad und Hisbollah-Chef Nasrallah kleben, trennt Shatila von dem Viertel, in dem sich die Rafik-Hariri-Universitätsklinik befindet. Dort, in der Obsorge verschleierter Schwestern, auf der Geburtsklinik des Spitals liegen Frühgeborene, deren Mütter das Weite gesucht haben. Weil sie weder die Geburt noch die Behandlung zahlen können. Aber gerade stressbedingte Frühgeburten häufen sich bei Flüchtlingen.
Je länger die Krise anhält, desto breiter fächern sich die Bedürfnisse. Kinder müssen zur Schule gehen. Räume für den Unterricht werden benötigt. Unterrichtsmittel. Decken für den Winter. Matratzen. Am Engagement syrischer Flüchtlinge, aber auch vieler Libanesen mangelt es nicht. An Geld schon.
Letztlich bleibt aber das Gefühl, von einem Pulverfass in ein anderes geflohen zu sein. "Die Spannungen im Libanon sind viel größer als in Syrien", sagt eine junge Frau aus einer der besonders hart getroffenen syrischen Städte. Woher sie ist, will sie nicht veröffentlicht wissen. "Die Menschen leben nebeneinander – nicht miteinander." In Syrien sei das anders – trotz Krieges, trotz der Toten.
Bei vielen Libanesen wieder weckt die Flüchtlingswelle aus Syrien alte Geister. 29 Jahre standen syrische Truppen im Land. Eine bei vielen verhasste Besatzungsmacht, die manche jetzt in Form von Flüchtlingen zurückkehren sehen – und übersehen, dass die, die jetzt fliehen, vor jenem Regime fliehen, das damals Soldaten schickte.
Libanon: Schwieriges Verhältnis zu Syrien
Bürgerkrieg Zunächst bat die libanesische Regierung Syrien um die Entsendung einer Friedenstruppe. Ursprüngliche Aufgabe war 1976 der Schutz der Maroniten. Zunehmend entwickelte sich die syrische Präsenz zum Streitpunkt. Die syrische Armee wurde in Kämpfe hineingezogen. Nach Ende des Krieges 1990 blieb sie bis 2005.
Abzug Nach Ende des Krieges bestimmte Syrien die Politik des Landes maßgeblich mit. Nach dem Attentat auf Ex-Premier Rafik Hariri im Februar 2005, das Syrien zugeschrieben wurde, kam es zu Protesten gegen die syrische Präsenz. Im April 2005 zog Syrien ab, unterhält aber weiter Beziehungen zu einzelnen Fraktionen im Libanon.
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Hintergrund
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