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"Neutralität ist eine liebe Fiktion in den Köpfen der Österreicher"

Dass die aktuelle österreichische Sicherheitsstrategie noch mit Stimmen des BZÖ und des Team Stronach den Nationalrat passierte, sorgt bei vielen Sicherheitsexperten für Stirnrunzeln. Neun Jahre ist es her, dass diese sicherheitspolitischen Grundlagen verabschiedet wurden, unter anderem steht dort: „Die Folgen des früheren Ost-West-Konflikts bestimmen nicht mehr wie bisher die sicherheitspolitische Agenda“. „Seither ist viel passiert“, führt Walter Feichtinger, Brigadier in Ruhe und Präsident des Centers für Strategische Analysen (CSA), zu Beginn der Diskussionsrunde  "Österreichs Sicherheit — reden wir darüber" an der Landesverteidigungsakademie aus.

In der von der Gesellschaft für politisch-strategische Studien ausgerichteten Veranstaltung zählt Feichtinger die russische Annexion der Krim, den überhasteten Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan auf – weist darauf hin, dass gerade das mit 2021 gescheiterte internationale Krisenmanagement in der Sicherheitsstrategie viel Platz finde. Der russische Angriff auf die Ukraine, ein konventioneller Krieg, werde in der Sicherheitsstrategie nicht einmal erfasst. Damit zeigte Feichtinger offenkundig auf, wie dringend eine neue Sicherheitsstrategie benötigt würde.

Er zählt zu jenen 50 Personen, die im Mai in einem Offenen Brief an den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, den Nationalrat und die österreichische Bevölkerung „eine ernsthafte, gesamtstaatliche Diskussion über die sicherheits- und verteidigungspolitische Zukunft Österreichs" und eine „Sicherheitsdoktrin" forderten. Zu den Unterzeichnern zählen Diplomaten, Politiker, Unternehmer, Künstler und Experten. Initiiert wurde der Aufruf unter anderem vom NEOS-Gründungsmitglied und Verlagsmanager Veit Dengler und der ehemaligen OGH-Präsidentin Irmgard Griss.

Breite Palette an Unterzeichnern

Unter den knapp 50 Unterstützern ist etwa Militärexperte Franz-Stefan Gady, AMS-Vorstand Johannes Kopf, Ex-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager und die Autoren Robert Misik, Julya Rabinowich und Robert Menasse.Letzterer war am Mittwoch einer von fünf Unterzeichnern, die auf der Landesverteidigungsakademie über die Anliegen des Briefes sprachen: „Ich bin der Meinung, dass es in Hinblick auf Situation darum geht, wie eine gesamteuropäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausschauen kann. Diese Idee gibt es eigentlich schon sehr lange“, sagte er und sah sich weder der „Neigungsgruppe NATO“ noch „den blinden Neutralitätsbefürwortern“ zugehörig.

Keine einzige Macht garantiere Österreichs Neutralität, sie sei eine „liebe Fiktion in den Köpfen der Österreicher“. Man glaube, man sei dadurch geschützt. „Wenn wir das anerkennen und das Thema Neutralität beiseiteschieben, können wir ergebnissoffen über eine mögliche künftige österreichische und europäische Sicherheitspolitik zu diskutieren“, sagte Menasse.

Auch die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Irmgard Griss, Mitbegründerin der Initiative, führte ihre Argumente ins Feld: Die geopolitische Lage habe sich schon lange verändert, der russische Einmarsch in die Ukraine habe es nun allen bewusst gemacht. „Zweitens hat es mich schon immer gestört, dass das Wissen darum, was die Neutralität bedeutet, sehr gering ist.“ Die Bevölkerung denke, „Österreich ist neutral und damit hat es sich“. Die liberale Demokratie habe nur dann eine Zukunft, wenn man ins Gespräch komme. Gerade im Bereich der Sicherheit – einem Bereich, der unsere Existenzgrundlage betrifft“ – sei eine breitere Debatte notwendig.

Diese Debatte wurde im Frühjahr von Bundeskanzler Karl Nehammer „für beendet“ erklärt – Rainer Münz, ehemaliger Berater der EU-Kommission, war darüber erzürnt: „Ich habe mich über die Nicht-Reaktion in Österreich auf die veränderte Sicherheitslage geärgert. Der Anstoß des Ärgernisses war nicht nur, dass der Herr Bundeskanzler die Debatte beendet hat, sondern zugleich, dass Deutschland etwas getan hat“, sagte er. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass das Bundesheer – sollte es zu einer Budgeterhöhung kommen – auch eine Analyse der Bedrohungslage benötige. „Aber kann sich ein 8 Millionen-Staat gegen eine Übermacht zur Wehr setzen? Ja!“, sagte er und führte Israel als Beispiel ins Feld.

Velina Tchakarova, Direktorin des Austria Institut für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES), verfolgte und analysierte die geopolitischen Entwicklungen der vergangenen 15 Jahre mit „teilweise Verzweiflung und teilweise Frustration“ von „der Insel der Seligen, Österreich“ aus. „Für mich ist nicht der 24. Februar ausschlaggebend gewesen, es ist eine Kette von verschiedenen systemischen Entwicklungen. Der 24. Februar ist nicht nur die Manifestation eines revisionistischen Projekts seitens des russischen Präsidenten, sondern auch der erfolgreiche Versuch der Unterminierung der europäischen Sicherheitsarchitektur“, sagte sie.

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