Politik/Inland

Neue Machtverhältnisse in Krankenkassen

Er sprach mehr als eine halbe Stunde lang. Und als Christoph Grabenwarter, Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes (VfGH), am Freitag die wichtigsten Punkte der 500 Seiten zählenden Entscheidung des Höchstgerichts verlesen hatte, war klar: Die umstrittene türkis-blaue Sozialversicherungsreform hält – und die Fusion der neun Gebietskrankenkassen zu einer großen Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) kann vorangetrieben werden. Sie startet wie geplant mit Jahresbeginn 2020.

Für anwesende Vertreter der Arbeitnehmer – darunter ÖGB und Arbeiterkammer – war die Entscheidung eine Enttäuschung, für manche gar ein Schock.

Denn auch einer der zentralen Punkte der Reform, die neue Machtverteilung in den Entscheidungsgremien der ÖGK sowie der anderen vier SV-Träger, ist für den VfGH rechtlich in Ordnung. Konkret geht es hier vor allem darum, dass es im Entscheidungsgremium künftig ein paritätisches Gleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geben wird (bisher hatten die – meist roten – Arbeitnehmervertreter die klare Mehrheit).

Die Lesart der Arbeitnehmervertreter ist diese: Mit der neuen Struktur kann die Mehrzahl der Versicherten nicht allein entscheiden, was in der, manche würden sogar sagen: ihrer Krankenkasse passiert.

Das Argument, wonach 160.000 Arbeitgeber nicht dasselbe Gewicht haben können wie 7,2 Millionen Versicherte, zieht für die Höchstrichter nicht. Der Gesetzgeber, also das Parlament, habe einen großen Spielraum bei der Frage, wie genau er das System der Sozialversicherung aufsetzt.

Vorausgesetzt, es gibt eine klare Trennung zwischen Staat und Selbstverwaltung.

Denn aufgehoben haben die Höchstrichter vor allem jene Teile der Reform, bei denen der Gesetzgeber zu stark in die Selbstverwaltung der Versicherten eingreifen hätte wollen.

Ministerium draußen

Konkret geht es um diverse Zusatzkompetenzen für einzelne Ministerien.

Ein Beispiel: Ursprünglich hätte die Reform vorgesehen, dass Kassenfunktionäre eine Prüfung ablegen müssen, um in der Kasse Verantwortung zu übernehmen, und dass Dokumente wie Mustergeschäftsordnungen dem Ministerium vorab vorgelegt werden müssen.

All das hat der VfGH als verfassungswidrig erkannt. Er hat entschieden, dass es weiterhin der Kasse überlassen bleibt zu überprüfen, ob die Beiträge für die Versicherten korrekt kalkuliert und bezahlt werden.

Für den scheidenden Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, Alexander Biach, ist die Entscheidung eine „enorme Stärkung der Selbstverwaltung“ – und eine deutliche Absage an ein verstaatlichtes Sozialversicherungssystem.

Krankengeld und Logo

Was ändert die VfGH-Entscheidung nun für die Patienten bzw. Versicherten?

In der Praxis wenig. Die ÖGK bekommt neue Logos, einzelne Leistungen wie das Krankengeld sollen am 1. Jänner in allen Kassen auf ein einheitliches Niveau angehoben werden. Ansonsten – von der E-Card bis zu den Leistungen beim Arzt oder im Spital – bleibt vorerst alles gleich.

Politisch ist die Sache demgegenüber längst nicht erledigt.

Die Arbeitnehmervertreter aus Gewerkschaft und Arbeiterkammer kritisieren die neuen Kräfteverhältnisse weiter scharf.

So erinnern sie etwa an den jüngst publik gewordenen Forderungskatalog der Wirtschaft, der zahlreiche Verschärfungen bei Krankenständen mit sich gebracht hätte.

Für ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian und andere Kritiker der Reform ist die VfGH-Entscheidung „nicht verständlich und ein herber Rückschlag“. Künftig würden Arbeitgeber zu 50 Prozent über die Leistungen der Versicherten entscheiden, sagt Katzian. Und es ist nicht zu überhören, dass er die neue Machtverteilung als unfair und falsch empfindet.