Politik/Ausland

USA: Suche nach Verantwortlichen für die Eskalation

Historische 21 Stunden hat es gedauert, bis Joe Biden am Donnerstag in den frühen Morgenstunden das grüne Licht vom amerikanischen Kongress erhielt: Biden wird am 20. Jänner als 46. Präsident der USA angelobt.

Mittendrin in diesem sonst eher langweiligen Prozedere lagen dreineinhalb Stunden, die unrühmliche amerikanische Geschichte schrieben: der Sturm Hunderter entfesselter Trump-Anhänger auf das Kongressgebäude. „Ich hatte Todesangst“, schilderte später die demokratische Kongressabgeordnete Annie Kuster. „Innerhalb von Minuten hatten sie die Türen gerammt und waren in der Senatskammer.“ Wenn einer der Eindringlinge eine automatische Waffe dabei gehabt hätte, sagt sie, „hätte es unzählige Tote im Kongress geben können.“

Am Tag danach stehen die USA noch immer unter Schock. Fragen nach der Verantwortung werden laut: Warum waren die Sicherheitsvorkehrungen rund um die erwartbaren Proteste der Trump-Anhänger so erstaunlich lasch? Und wie viel Schuld trägt Noch-Präsident Donald Trump dafür, dass der von ihm angestachelte Mob das Herz der amerikanischen Demokratie stürmte, vandalisierte und beschädigte?

Trump selbst ist uneinsichtig: Mitschuld an den Ereignissen wies er am Donnerstag zurück, und auch dass er die Wahlen verloren hat, will er weiter nicht eingestehen. Doch offenbar unter dem Eindruck der verheerenden Bilder aus dem Kongress ließ der scheidende Präsident schließlich einen Mitarbeiter die erlösenden Worte twittern: „Am 20. Jänner wird es eine geordnete Amtsübergabe geben.“ Trump selbst wurde von Twitter vorübergehend, von Facebook langfristig gesperrt.

Einen völligen Rückzug aus der Politik aber dürfte dies nicht bedeuten, denn Trump kündigte sogleich an: „Während dies das Ende der großartigsten ersten Amtszeit in der präsidialen Geschichte darstellt, ist es nur der Anfang unseres Kampfes, Amerika wieder groß zu machen!“

Alle Inhalte anzeigen

Neue Verhältnisse

Das Ende der Ära Trump aber bescherte den USA nicht nur beschämende Szenen im Kongress, sondern auch eine historische Umwälzung der politischen Kräfteverhältnisse: In nur einer Amtszeit gingen alle republikanischen Mehrheiten verloren. Überall haben die Demokraten nun die Oberhand. Die Kontrolle über das Repräsentantenhaus halten sie schon seit 2018, das Weiße Haus gewann Joe Biden im November, und die Mehrheit im Senat holten sie sich bei den zwei Stichwahlen in Georgia am Dienstag.

Auch immer mehr Republikaner wandten sich im Laufe des Donnerstags von Trump ab. Das erste Kabinettsmitglied, das seinen Rücktritt ankündigte, war Verkehrsministerin Elaine Chao in den Morgenstunden. Sie sprach von einem "traumatisierenden und vermeidbaren" Ereignis, das sie "zutiefst" beunruhige und das sie nicht einfach "ignorieren" könne.

Alle Inhalte anzeigen

Chao ist die Ehefrau des Mehrheitsführers der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell, der lange als enger Verbündeter Trumps galt. Sie folgte mehreren Rücktritten, etwa Stephanie Grisham, der Sprecherin von Melania Trump, und dem stellvertretenden Nationalen Sicherheitsberater Matt Pottinger.

Amtsenthebung im Gespräch

Die demokratische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, forderte die sofortige Absetzung von Präsident Donald Trump gefordert und rief Vizepräsident Mike Pence auf, eine Amtsenthebung auf Basis des Zusatzartikels 25 der US-Verfassung anzustrengen.

Dieser Zusatzartikel erlaubt es, den Präsidenten für "unfähig, die Rechte und Pflichten des Amtes auszuüben" zu erklären. Eine solche Erklärung müssen der Vizepräsident und eine Mehrheit der wichtigsten Kabinettsmitglieder vornehmen und dies dann dem Kongress mitteilen. Legt der Präsident Widerspruch ein, müssen die beiden Kongress-Kammern Senat und Repräsentantenhaus mit einer Zweidrittelmehrheit der Amtsenthebung zustimmen. Es bräuchte große Teile der republikanischen Partei im Kongress, um diese Mehrheiten zu erreichen.

Mit Adam Kinzinger hat der erste republikanische Abgeordnete im US-Repräsentantenhaus offen zu einer Amtsenthebung nach dem 25. Verfassungszusatz aufgerufen, erklärte der Parlamentarier am Donnerstag auf Twitter. "Alles deutet darauf hin, dass der Präsident hat sich losgelöst hat, nicht nur von seiner Pflicht oder sogar seinem Eid, sondern von der Realität selbst."

Alle Inhalte anzeigen

US-Medien hatten am Mittwochabend (Ortszeit) berichtet, dass einzelne Kabinettsmitglieder angesichts der Ausschreitungen von Trump-Unterstützern eine Enthebung nach Artikel 25 diskutiert hatten. Doch auch wenn schon erste Republikaner sich für diesen Akt aussprachen, gilt es als unwahrscheinlich, dass das Prozedere bis zur Amtsübergabe am 20. Jänner beendet werden kann.

"Nicht unabsehbar"

Joe Biden nannte den Mittwoch „einen der dunkelsten Tage unserer Geschichte“ und wiederholte seine Worte, dass es sich nicht um „Protest“, sondern um einen „Aufruhr“ gehandelt habe. Er beschuldigte Trump, die Gewalt angezettelt zu haben, weil er „die Sprache der Diktatoren“ verwende. Eine Eskalation wie diese sei nicht unabsehbar gewesen, so Biden.  "Von Anfang an hat er einen kompletten Angriff auf die Institutionen unserer Demokratie ausgeführt", sagte Biden mit Blick auf Trump. Die Vorfälle vom Mittwoch seien "der Höhepunkt dieses unablässigen Angriffs" gewesen, sagte Biden.

Alle Inhalte anzeigen

In Washington kehrte am Donnerstag zunächst wieder Ruhe ein – auch dank ab 18 Uhr geltender Ausgangssperren. Diese bleiben vorerst bis 21. Jänner aufrecht – bis zum Tag nach der Angelobung von Joe Biden als Präsident.