Machtkampf eskaliert: Prigoschin ruft zu Widerstand auf, Putin spricht von Verrat
Der Machtkampf zwischen dem russischen Militärunternehmer Jewgeni Prigoschin und der Staatsführung in Moskau eskaliert zu einer der schwersten innenpolitischen Krisen Russlands seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs vor 16 Monaten. Präsident Wladimir Putin bezeichnete in einer kurzfristig anberaumten TV-Ansprache Prigoschins Vorgehen als Meuterei.
Kämpfer der von Prigoschin geführten Söldner-Gruppe Wagner haben nach eigenen Angaben die Grenze nach Russland überquert und kontrollierten am Samstag einem Insider aus russischen Sicherheitskreisen zufolge die militärischen Einrichtungen der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau. Das Ziel sei anscheinend die russische Hauptstadt, erklärte das britische Verteidigungsministerium.
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Putin: Verräter werden "unvermeidlich bestraft"
Jeder, der die Waffen gegen die Armee erhoben habe, sei ein Verräter und werde bestraft, sagte Putin. "All jene, die sich bewusst auf den Weg des Verrats begeben haben, die einen bewaffneten Aufstand vorbereitet haben, die den Weg der Erpressung und der terroristischen Methoden eingeschlagen haben, werden unvermeidlich bestraft werden", sagte Putin. "Sie werden sich sowohl vor dem Gesetz als auch vor unserem Volk verantworten."
Prigoschin widersprach umgehend: "Der Präsident irrt sich schwer", sagte er in einer Sprachnachricht auf seinem Telegram-Kanal. "Wir sind Patrioten unserer Heimat." Prigoschin erklärte, er und seine Männer würden nicht aufgeben, wie von Putin befohlen. Russland solle nicht länger mit Korruption, Lügen und Bürokratie leben müssen.
Prigoschin: "Wir sind Patrioten"
"Als uns gesagt wurde, dass wir uns im Krieg mit der Ukraine befinden, gingen wir los und kämpften. Aber es stellte sich heraus, dass Munition, Waffen und das gesamte Geld, das investiert wurde, ebenfalls gestohlen werden", sagte Prigoschin weiter. Er hatte zuvor schon immer wieder Korruption und Bürokratie kritisiert, besonders im Verteidigungsministerium. "Wir sind Patrioten", sagte er nun. "Und die, die sich uns heute widersetzen, sind die, die sich um den Abschaum versammelt haben."
Die russische Hauptstadt Moskau verstärkte die Sicherheitsmaßnahmen. Es würden zusätzliche Straßenkontrollen eingeführt, sagte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. Zudem würden Anti-Terror-Maßnahmen ergriffen. Die Bundesregierung und die Regierungen in Frankreich und Polen erklärten, sie beobachteten die Situation in Russland aufmerksam.
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Der Gouverneur der Region Woronesch erklärt, die Armee ergreife "notwendige militärische Maßnahmen" gegen den bewaffneten Aufstand der Söldnergruppe Wagner. "Im Rahmen einer Anti-Terror-Operation führen die Streitkräfte der Russischen Föderation auf dem Gebiet der Region Woronesch notwendige operativ-kämpferische Maßnahmen durch", schrieb Gouverneur Alexander Gussew am Samstagmittag auf Telegram."
"Was wir sehen, ist ein Stich in den Rücken"
Die Experten des britischen Verteidigungsministeriums stuften den Konflikt größte Bedrohung für den russischen Staat in der jüngsten Zeit ein. Nun komme es auf die Reaktion der Sicherheitskräfte an, vor allem der Nationalgarde. Teile der russischen Sicherheitskräfte verhielten sich bisher wohl passiv. Putin appellierte in seiner Ansprache an die die Wagner-Gruppe, dass alle Streitigkeiten beendet werden sollten. "Wir brauchen die Einheit aller Kräfte". Er forderte die Kämpfer auf, sich nicht an kriminellen Aktionen zu beteiligen. "Was wir sehen, ist ein Stich in den Rücken". Das russische Militär habe die notwendigen Befehle.
Prigoschin hatte am Freitagabend in mehreren Audiobeiträgen auf dem Kurznachrichtendienst Telegram die offizielle Begründung Russlands für den Krieg in der Ukraine als Lügengeschichte bezeichnet und Verteidigungsminister Sergej Schoigu beschuldigt, einen Militärangriff zur Zerstörung seiner Söldnergruppe Wagner angeordnet zu haben. In einem anderen Telegram-Kanal wurde ein Video veröffentlicht, in dem von einem Raketenangriff des russischen Militärs auf Wagner-Einheiten die Rede ist. Zu Aufnahmen von einem Waldgelände mit umgestürzten Bäumen und Bränden hieß es schriftlich: "Ein Raketenangriff wurde auf die Lager des Privaten Militärunternehmens Wagner ausgeführt. Viele Opfer." Der Angriff sei vom russischen Militär ausgeführt worden. Reuters konnte die Angaben und die Authentizität des Videos nicht überprüfen.
"Wir sind 25.000"
Das russische Verteidigungsministerium wies die Anschuldigungen zurück. Der Inlandsgeheimdienst FSB eröffnete ein Strafverfahren gegen Prigoschin wegen des Vorwurfs, er habe zum bewaffneten Aufstand aufgerufen. Prigoschin kündigte an, er werde das "Böse" in der Militärführung stoppen. Diejenigen, die die Leben Zehntausender russischer Soldaten zerstört hätten, würden bestraft. Das Ministerium halte 2.000 Leichen unter Verschluss, um das Ausmaß der Verluste zu verschleiern. "Wir sind 25.000 und wir werden herauskriegen, warum das Land ins Chaos gestürzt wurde", sagte der Söldnerchef. Der größte Teil des Militärs unterstütze ihn. "Das ist kein Militärputsch. Das ist ein Marsch für Gerechtigkeit."
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Zuvor hatte Prigoschin in einem Video erklärt, das Verteidigungsministerium versuche, Putin und die Öffentlichkeit über die Kriegsgründe zu täuschen. Dass von der Ukraine eine Aggression ausgehe und diese gemeinsam mit der NATO Russland angreifen solle, sei eine Lügengeschichte. "Die Spezialoperation wurde aus anderen Gründen begonnen", sagte Prigoschin, der Schoigu wiederholt scharf kritisiert und sich einer Unterordnung seiner Söldner unter das russische Militär widersetzt hat. "Der Krieg war notwendig, damit Schoigu Marschall werden und eine zweite Heldenmedaille bekommen kann", sagte Prigoschin. Außerdem habe sich die russische Elite mithilfe des Kriegs substanzieller Vermögenswerte bemächtigen wollen. "Der Krieg war nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder denazifizieren."
Damit widersprach Prigoschin indirekt auch Putin. Der Präsident galt stets als Gönner des Unternehmers, der seinerseits offene Kritik an Putin vermieden hatte. Putin hatte erklärt, die als "militärische Spezialoperation" bezeichnete Invasion seit dem 24. Februar vergangenen Jahres habe das Ziel, die Ukraine zu demilitarisieren und zu denazifizieren. Er hat den Krieg auch als Existenzkampf gegen den Westen bezeichnet, der eine Zerstörung Russlands anstrebe. Diese Darstellung wird von der Ukraine sowie von zahlreichen westlichen und anderen Staaten zurückgewiesen. In dem Krieg kämpfen die Wagner-Söldner offiziell an der Seite des russischen Militärs.
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Kadyrow: Bereit, um zu helfen
Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow steht nach eigenen Worten bereit, um mit seinen Truppen bei der Niederschlagung der "Meuterei" der Wagner-Kämpfer zu helfen. Der Putin-Verbündete Kadyrow nannte das Vorgehen des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin einen "Dolch im Rücken" und mahnte die russischen Soldaten, sie sollten sich nicht provozieren lassen.
"Zerfleischen sich gegenseitig"
Die US-Regierung beobachtete die Entwicklungen nach Angaben eines Sprechers aufmerksam. "Wir verfolgen die Lage und werden uns mit Alliierten und Partnern über diese Entwicklungen abstimmen", sagte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Präsident Joe Biden sei informiert. Die rivalisierenden russischen Truppen seien dabei, "sich im Kampf um Macht und Geld gegenseitig zu zerfleischen", kommentierte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow.
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