Politik/Ausland

"Tiermassaker": Warum Erdoğan Istanbuls Straßenhunde einschläfern will

Anfang des Jahres trauerte die Türkei um "Eros" – die Straßenkatze beherrschte kurz den Lokalwahlen die öffentliche und politische Debatte. Sie war von einem Mann in einem Aufzug zu Tode getreten worden, Kameras hielten die Tat fest. Die Empörung war groß – so groß, dass der Mann wegen "absichtlicher Tötung eines Tieres" zu einer Strafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt wurde. Als diese wegen guter Führung auf drei Monate verkürzt wurde, zogen Protestmassen auf. Schließlich soll sich sogar Präsident Recep Tayyip Erdoğan eingemischt und verlangt haben, das Urteil zu verschärfen – auf zweieinhalb Jahren Haft.

Straßenkatzen und -hunde gehören zur Metropole am Bosporus wie Çay-Stuben und Simit-Verkäufer. Kaum ein Buch über die Stadt kommt ohne Verweise auf die streunenden Bewohner aus. Doch während sich Präsident Erdoğan vehement für Gerechtigkeit für "Eros" eingesetzt hat, will er jetzt herrenlose Hunde im schlimmsten Fall einschläfern lassen – was Tierschützer und Hundeliebhaber seit Wochen aufschreien lässt und auf die Straßen treibt. 

Denn hinter Erdoğans Vorhaben steckt weit mehr als eine persönliche Vorliebe oder Sicherheitsbedenken.

3.544 Verkehrsunfälle sollen die herrenlosen Tiere in den vergangenen fünf Jahren verursacht, 55 Menschen getötet und mehr als 5.000 verletzt haben. Auch Tollwutfälle sollen zunehmen. Die WHO stuft die Türkei mittlerweile als Hochrisikogebiet für die Krankheit ein.

Die islamisch-konservative AKP-Regierung, die von vier Millionen Straßenhunden ausgeht, will nun die Tiere in großem Maßstab einfangen und ins Tierheim bringen, sie sterilisieren und mit einem Chip versehen. Findet sich binnen 30 Tagen kein Besitzer für einen Hund, soll dieser eingeschläfert werden. Der Plan sei im Vorhinein zum Scheitern verurteilt, warnen Tierschützer und -ärzte: Es gebe nicht genügend Kapazitäten, alle Hunde aufzunehmen und sterilisiere zu lassen.

Hunde sind "unrein", Prophet Mohammed mochte Katzen

Die Straßenhunde sind längst Teil eines identitätspolitischen Kulturkampfes: Denn im traditionellen Islam gelten Hunde als "unrein", dürfen etwa nicht im selben Haus leben wie Menschen. Eine Zuneigung für Katzen ist für viele wiederum fester Bestandteil des Glaubens; selbst Prophet Mohammed hatte eine.

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Schon in der Vergangenheit hat Präsident Erdoğan Straßenhunde wiederholt zu einem Thema im Kulturkampf gemacht: Hundebesitzern warf er Elitismus vor; er sprach davon, dass sich nur "weiße Türken" Haustiere leisten würden – ein politisches Schlagwort, das eine europäisch orientierte, säkulare Elite vor allem im Westen der Türkei meint, von der sich Erdoğan gerne abgrenzt.

Die Gegner Erdoğans wiederum, allen voran die säkulare CHP, stellen sich in dieser Debatte meist auf die Seite der Hunde. Sein aktuell gefährlichster Kontrahent, der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, machte vor Jahren etwa den streunenden Hund Boji zum Internet-Star, und postete Fotos, wie Boji in Straßenbahnen, U-Bahnen und auf Fähren herumstreifte und von Passanten verwöhnt wurde.

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Zuletzt demonstrierten Tausende in Istanbul gegen das drohende Gesetz. Türkische Tierschutzgruppen warnten vor einem "beispiellosen Tiermassaker in der Geschichte unseres Landes".

Und nicht wenige erinnern an die "Tragödie von Hayirsizada": 1910 wurden in Istanbul schätzungsweise 60.000 streunende Hunde eingefangen und auf die einsame Insel im Marmarameer gebracht. Dort begannen sie, ohne Wasser und Nahrung sich gegenseitig zu zerfleischen.