"Schadenfreude" über den "orangenen Mann": Pressestimmen zur Trump-Anklage
Donald Trump muss sich heute, Donnerstag, in Washington vor Gericht verantworten. Der Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 hat ein juristisches Nachspiel für den ehemaligen US-Präsidenten.
Dabei wird ihm die 45-seitige Anklageschrift verlesen, vier formale Anklagepunkte werden ihm zu Last gelegt.
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Unklar ist, ob Trump persönlich vor Gericht erscheint oder online zugeschaltet wird. Trump dürfte höchstwahrscheinlich auf "nicht schuldig" plädieren. In der Vergangenheit bezeichnete er die Anschuldigungen als rein politisch motiviert.
Die Anklage ist die zweite gegen Trump auf Bundesebene. Er wurde bereits im Zusammenhang mit der Einbehaltung von Geheimdokumenten als erster Ex-Präsident der Geschichte von einer Grand Jury angeklagt.
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"System hat die Angriffe überlebt"
Zur historischen Anklage schreiben internationale Zeitungen wie folgt:
New York Times
"Eine Anklage dieses Ausmaßes hat das Strafrechtssystem der USA noch nie gesehen. Es ist das erste Mal, dass ein ehemaliger Präsident von der Bundesregierung ausdrücklich beschuldigt wird, das Land betrogen zu haben. (...)
Es ist die dritte strafrechtliche Anklage gegen Trump und sie zeigt einmal mehr, dass die Rechtsstaatlichkeit in den USA für jeden gilt, auch wenn der Angeklagte der höchste Beamte des Staates war. Die in dieser Anklageschrift zur Last gelegten Straftaten sind bei weitem die schwersten, weil sie die Grundprinzipien des Landes untergraben. (...)
Trump hat versucht, das Verfassungssystem und die Rechtsstaatlichkeit des Landes auszuhebeln. Dieses System hat seine Angriffe überlebt und wird ihn nun für diesen Schaden zur Rechenschaft ziehen."
"Keine neuen Beweise"
Wall Street Journal, New York
„Donald Trumps Verhalten nach der Wahl 2020 war betrügerisch und zerstörerisch, sein Dienstvergehen am 6. Januar 2021 war schändlich, aber war es kriminell? Das ist die Behauptung in der außerordentlichen Anklageschrift, die am Dienstag von einer von Sonderermittler Jack Smith eingesetzten Bundesjury veröffentlicht wurde. (...)
Die Anklage liefert jedoch über seine bekannten Tweets und öffentlichen Äußerungen hinaus keine neuen Beweise, die einen Zusammenhang zwischen dem Aufstand und Trump belegen könnten. Sicherlich hätte Smith sie zu seinen Verschwörungsvorwürfen hinzugefügt, hätte er solche Beweise gefunden. Trump wird auch nicht vorgeworfen, zu einem “Aufstand„ ermutigt zu haben, wie dies von der Presse und den Demokraten behauptet wird. (...)
Wir haben argumentiert, dass eine Anklage gegen einen ehemaligen Präsidenten auf schwerwiegenden Anschuldigungen mit genügend Beweisen beruhen sollte, um die meisten Amerikaner davon zu überzeugen, dass sie zu Recht erhoben wird. Wir bezweifeln, dass die meisten Republikaner dies so sehen werden, und das bedeutet, dass wir uns auf schwierigere und gefährlichere Monate einstellen müssen."
Neue Zürcher Zeitung
"Die neueste Anklage wegen des Umsturzversuchs in den Monaten nach der Wahlniederlage im November 2020 betrifft den schwersten Vorwurf, den man einem Politiker machen kann: den Angriff auf die Demokratie und damit das amerikanische Staatswesen. Der Untersuchungsausschuss im Repräsentantenhaus hat detailliert herausgearbeitet, dass Trump in seinem Willen, sich an der Macht zu halten, zu allem bereit war. Der Sturm auf das Capitol war keine aus dem Ruder gelaufene Protestkundgebung, sondern Teil des letzten Versuchs in diesem verzweifelten Plan. (...)
So logisch die Anklage ist, so riskant ist sie auch. Die Beweisführung ist schwieriger als im Fall der unterschlagenen Geheimdokumente. Das Justizministerium muss alle Geschworenen davon überzeugen, dass dem ehemaligen Präsidenten seine Wahlniederlage klar war und er dennoch den Umsturz bis hin zur Gewalt wollte. (...) Die nächsten Monate werden für die USA zweifellos zu einem Stresstest werden. Eine zweite Amtszeit Trumps wäre der ungleich größere. Wegen seines Verhaltens nach der Wahlniederlage sollte sich der ehemalige Präsident für jedes weitere politische Amt disqualifiziert haben. Dieses Urteil obliegt jedoch den Wählerinnen und Wählern - nicht der Justiz."
"Bizarre Natur der amerikanischen Politik"
The Times, London
"Die beste Hoffnung für den 45. Präsidenten der USA, die Flut von Anklagen abzuwehren, die gegen ihn erhoben werden, besteht darin, der 47. Präsident der USA zu werden. Wenn Donald Trump es schafft, bei den Präsidentschaftswahlen im November nächsten Jahres die Ziellinie zu überqueren, kann er sich den Schutzmantel der exekutiven Immunität umhängen und denjenigen eine lange Nase zeigen, die ihn zur Rechenschaft ziehen wollen. (...)
Dieses absurde mögliche Ergebnis unterstreicht nur die bizarre Natur der aktuellen amerikanischen Politik. Eine zutiefst polarisierte Nation mit 334 Millionen Einwohnern hat es irgendwie geschafft, sich in eine Lage zu bringen, in der ein populistischer Narzisst mit einer lässigen Verachtung für die Rechtsstaatlichkeit einem gebrechlichen und vergesslichen Gerontokraten gegenübersteht, der ständig mit Anschuldigungen gegen seinen Sohn konfrontiert wird. 15 Monate vor der Präsidentschaftswahl deuten Umfragen darauf hin, dass Trump und Biden Kopf an Kopf liegen. Und jeder neue Vorwurf gegen Trump trägt nur dazu bei, seine Popularität bei seiner Basis zu steigern."
de Volkskrant, Amsterdam
"In den Umfragen zu den republikanischen Vorwahlen liegt Trump 37 Prozentpunkte vor seinem schärfsten Konkurrenten Ron DeSantis. Und bei dem wahrscheinlichen Duell zwischen Trump und dem derzeitigen Präsidenten Joe Biden stehen die Chancen etwa 50 zu 50. Eine Verurteilung (sollte sie rechtzeitig erfolgen) könnte seine Chancen etwas schmälern, aber allzu viele Zweifler gibt es nicht. Ein Großteil der republikanischen Wählerschaft unterstützt Trump vorbehaltlos.
Ein Angeklagter gilt als unschuldig, bis seine Schuld bewiesen ist. Aber umgekehrt haben Trump-Anhänger und andere Republikaner keinerlei Problem damit, Staatsanwälte im Voraus als 'parteiisch' zu brandmarken. 'Die Verfolgung von Präsident Trump erinnert an Nazi-Deutschland, die ehemalige Sowjetunion und andere diktatorische Regime', erklärt Trumps Wahlkampfteam. Auch Präsidentschaftskandidaten wie der frühere Vizepräsident Mike Pence und Ron DeSantis sprechen seit Wochen von einer 'Politisierung' der Staatsanwaltschaft und deren 'Einsatz als Waffe'."
"Diese Anklage scheint schwerwiegender"
La Vanguardia, Madrid
"Diese dritte Anklage scheint schwerwiegender zu sein als die beiden vorherigen. (...) Die für die Vorwürfe im Gesetz vorgesehenen Strafen könnten ihn theoretisch für den Rest seines Lebens ins Gefängnis bringen. Aber es wäre verfrüht, zu behaupten, dass dies tatsächlich passieren wird. In den Umfragen für die republikanische Nominierung für die Wahlen 2024 liegt Trump weiterhin klar in Führung, mit einem großen Vorsprung vor Ron DeSantis, seinem bisherigen Hauptkonkurrenten.
Bei seinen Anhängern, die oft polarisiert sind und eine eher emotionale als rationale Vorstellung von Politik haben, macht eine solche Serie von Anklagen überhaupt keinen Unterschied. Trotz aller Nachforschungen der Staatsanwaltschaft neigen sie vielmehr dazu, alle Behauptungen von Trump als wahr anzusehen und jeden Vorwurf gegen ihn als Schwindel abzutun. (...) Eine Person mit seiner Vorgeschichte sollte nicht ins Weiße Haus einziehen."
"Leider gibt es überhaupt nichts zu lachen"
Jyllands-Posten, Aarhus
"Das Netz um Donald Trump zieht sich zusammen. Er ist unter Prozessen begraben, aber mit der jüngsten Anklage scheint es wirklich düster auszusehen für ihn. Im Falle einer Verurteilung kann er sehr wohl im Gefängnis enden. Es ist viel zu früh, um das Ende dieser Geschichte vorherzusagen, aber dies scheint ein wahrscheinliches Szenario zu sein, und viele werden sicherlich mit Schadenfreude an den orangenen Mann in orangener Haftuniform denken.
Leider gibt es überhaupt nichts zu lachen. Im Gegenteil. Man muss die Reaktion seiner gewalttätigen Anhänger fürchten. Donald Trump ist eine amerikanische Tragödie. Er ist ein Symbol und ein Ergebnis einer furchtbaren Spaltung und eines Stillstands des demokratischen Dialogs, angeheizt durch die sozialen Medien und eine zunehmend rückgratlose Klasse von Politikern, die losgelöst von den Menschen agieren, die sie zu vertreten vorgeben."
Die Presse, Wien
"Trump versteht es sogar, die öffentliche Aufregung rund um seine Justizquerelen in Wahlkampfmunition umzumünzen. (...) Der Demagoge schießt aus allen Rohren und hat überhaupt kein Problem, wenn er dabei auch den Rechtsstaat beschädigt. Sein narzisstischer Furor kennt keine Achtung vor demokratischen Institutionen. Seinen Anhängern gefällt die respektlose Art. (...)
Die Methode wirkt. Seit seiner Anklage in New York vor vier Monaten ist er in Umfragen um satte zehn Prozentpunkte gestiegen. Die USA und die Welt können sich darauf einstellen, dass Trump trotz aller Zores (Ärger) vor Gericht bei der Präsidentschaftswahl antritt - und sie vielleicht sogar gewinnt. Die US-Demokratie steht vor einer schweren Belastungsprobe - und mit ihr der gesamte freie Westen.“