Russen bieten Fluchtkorridor für Zivilisten in Chemiewerk an
Angesichts der erbitterten Kämpfe im ostukrainischen Sjewjerodonezk will die russische Armee nach eigenen Angaben einen Fluchtkorridor für Zivilisten einrichten, die in der dortigen Asot-Chemiefabrik Zuflucht gesucht haben. Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte am Dienstag, den „Prinzipien der Humanität“ folgend werde am Mittwoch zwischen 7.00 und 19.00 Uhr (MESZ) in nördliche Richtung ein Fluchtweg in die Stadt Swatowe (Swatowo) geöffnet.
Auf dem Werksgelände der Asot-Chemiefabrik sollen laut dem Chef der städtischen Militärverwaltung, Olexander Strjuk, in Bombenschutzkellern etwa 540 bis 560 Zivilisten ausharren. „Gewisse Vorräte wurden im Asot-Werk geschaffen“, sagte Strjuk. Zudem leisteten Polizisten und Militärs so gut wie möglich Hilfe. Das Gelände stehe aber unter ständigem Beschuss.
Swatowe liegt in der von prorussischen Separatisten kontrollierten und von Moskau als Staat anerkannten Volksrepublik Luhansk. „Es wird eine sichere Evakuierung aller friedlicher Bürger garantiert - ohne Ausnahme“, sagte Michail Misinze, Vertreter des russischen Verteidigungsministeriums. Das Ministerium rief die ukrainischen Truppen auf, eine weiße Flagge zu hissen, um ihr Einverständnis mit dem Vorschlag zu signalisieren. Sie sollten ihren „absurden Widerstand“ im Asot-Werk aufgeben, erklärte das Ministerium weiter.
Sorge um ukrainische Kämpfer
Einen Vorschlag der ukrainischen Seite, die Menschen auf von Kiew kontrolliertes Gebiet fliehen zu lassen, lehnte Moskau ab. Demnach schlugen die ukrainischen Behörden vor, die Menschen im benachbarten Lyssytschansk in Sicherheit zu bringen. Das von Kiew angedachte Vorgehen diene nur dazu, ukrainische Kämpfer über diesen Weg aus Sjewjerodonezk herauszuschleusen, sagte Misinzew. Kiew versuche, solch ein Szenario wie zuvor beim Stahlwerk Azovstal in der Hafenstadt Mariupol durchzuziehen.
Misinzew forderte die ukrainischen Kämpfer auf, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben. Dann werde ihr Leben verschont. Zuvor waren bereits Tausende ukrainische Soldaten in Mariupol in Gefangenschaft gekommen. Die Gesamtzahl der Kriegsgefangenen auf russischer Seite liegt nach Moskauer Angaben bei etwa 6.500.
Situation wie in Mariupol
Die Situation erinnert an die Lage in der Hafenstadt Mariupol, wo Zivilisten wochenlang mit verwundeten ukrainischen Kämpfern im Stahlwerk Asowstal ausgeharrt hatten. Die Leichen von weiteren 64 gefallenen ukrainischen Verteidigern des Stahlwerks wurden am Dienstag ukrainischen Angaben zufolge von Russland an die Ukraine übergeben. Bereits am 9. Juni hatte Kiew 58 Leichen entgegengenommen.
Die seit Wochen umkämpfte Verwaltungsstadt Sjewjerodonezk ist nach der Zerstörung der dritten und letzten Brücke über den Fluss Siwerskyj Donez nahezu vollständig von russischen Truppen eingekreist und laut Gouverneur Serhiy Gaidai (Hajdaj) unmöglich zu evakuieren. Nur das ukrainische Militär habe noch einen begrenzten Zugang zur Stadt. Der Kampf um Sjewjerodonezk gilt als mitentscheidend für die Herrschaft über den Donbass im Osten des Landes. Die Lage der ukrainischen Truppen sei „schwierig, aber unter Kontrolle“, obwohl 70 Prozent der Stadt von Russland kontrolliert würden, so Gaidai. Eine Eroberung der Stadt würde der russischen Armee den Weg nach Slowjansk und nach Kramatorsk, der Hauptstadt der Nachbarregion Donezk, öffnen.
Russlands Truppen haben zudem im Osten der Ukraine nach ukrainischen Angaben im Gebiet Donezk weiter vorrücken können. Die Angreifer hätten sich in der Siedlung Widrodschennja festgesetzt, teilte der ukrainische Generalstab am Dienstag auf Facebook mit. Zuvor habe es schweren Artilleriebeschuss auch auf die nahe gelegene Stadt Bachmut gegeben. Die russischen Einheiten stießen demnach entlang der Europastraße 40 in Richtung Bachmut vor. Im nördlichen Teil des Gebiets gebe es weiter Kämpfe um den Ort Bohorodytschne. Damit sollten offenbar die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß in Richtung der Stadt Slowjansk geschaffen werden, hieß es weiter. Den Einschätzungen der Ukrainer zufolge bereiten sich die Russen darauf vor, ihre Offensive vom eroberten Lyman nach Rajhorodok und von Jampil nach Siwersk wieder aufzunehmen. Rajhorodok liegt nur wenige Kilometer von Slowjansk entfernt.