Was die Wahl in Großbritannien so kompliziert macht
Rund 46 Millionen wahlberechtigte Briten entscheiden am heutigen Donnerstag über ein neues Parlament. Die Royals gehen übrigens traditionell nicht wählen.
Warum ist diese Wahl besonders wichtig?
Premierminister Boris Johnson von den konservativen Tories will sein Brexit-Abkommen durchbringen und sein Land bis zum 31. Jänner aus der EU führen. Dafür braucht er eine klare Mehrheit im Parlament.
Sein Herausforderer Jeremy Corbyn von der sozialdemokratischen Labour-Partei hat sich anders positioniert: Er verspricht, als Premier einen neuen Brexit-Deal mit Brüssel zu verhandeln. Dies soll innerhalb von drei Monaten geschehen und eine engere EU-Anbindung zum Resultat haben, als Johnson sie vorsieht. Anschließend würde Corbyn den neu verhandelten Vertrag über den EU-Austritt noch einmal zur Abstimmung stellen. Das Ergebnis dieses Referendums könnte dann auch ein Verbleib in der Staatengemeinschaft sein.
Was sagen die Umfragen?
Johnson ist zwar der klare Favorit, allerdings können sich die Konservativen einer absoluten Mehrheit nicht sicher sein. Die oppositionelle Labour-Partei konnte den Rückstand in den Umfragen in den vergangenen Tagen verringern, und so könnte es zu einem "hung parliament" ("Parlament in der Schwebe") kommen. Damit ist eine Sitzverteilung gemeint, in der keine der beiden großen Parteien die absolute Mehrheit hat und aus eigener Kraft eine Regierung bilden kann.
Eine letzte Umfrage des Instituts YouGov sah Johnsons Tories bei 43 Prozent der Stimmen, Labour bei 34 Prozent. Jedoch ist es kaum möglich, aus den Umfragedaten auf die künftige Sitzverteilung im Parlament zu schließen. Der Grund: Die Briten haben ein Mehrheitswahlrecht.
Was hat es mit dem britischen Wahlsystem auf sich?
Das britische Wahlrecht (relatives Mehrheitswahlrecht) kennt nur Direktmandate. Ins Parlament zieht nur der Kandidat mit den meisten Stimmen in seinem Wahlkreis ein. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen.
Großbritannien hat 650 Wahlkreise: Wer die Mehrheit in seinem Wahlkreis erreicht, vertritt diesen im Parlament in London. Da es für das Erreichen des Mandats egal ist, wie knapp man in dem Wahlkreis gewinnt, sind Prognosen schwierig. Denn die Stimmen des unterlegenen Kandidaten im Wahlkreis verfallen.
Theoretisch liegt die Mehrheit bei 326 Sitzen. Weil aber die nordirisch-katholische Partei Sinn Fein ihre Sitze traditionell nicht einnimmt, liegt die Mehrheit faktisch etwas darunter. Bei der vergangenen Wahl gewann Sinn Fein sieben Mandate.
Warum wählen die Briten schon wieder?
Die vergangene britische Unterhauswahl war erst am 8. Juni 2017, Johnson-Vorgängerin Theresa May holte damals mit den Tories 318 der 650 Sitze.
Am 17. Oktober dieses Jahres verkündeten Johnson und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Einigung auf einen "großartigen" neuen Brexit-Deal. Doch das britische Parlament hätte die Vereinbarung absegnen müssen - was es nicht tat. Zähneknirschend musste Johnson deshalb eine Verschiebung seines ja eigentlich bis 31. Oktober angestrebten Brexits hinnehmen.
Am 27. Oktober setzte Johnson sich dann vehement für Neuwahlen ein, um das Patt zwischen seiner Regierung und dem Parlament zu durchbrechen. Am 29. Oktober machte das britische Parlament schließlich mit Zwei-Drittel-Mehrheit den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei.
Wann gibt es Wahlergebnisse?
Von 8 bis 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit (UK: 7 bis 22 Uhr) haben die Wahllokale geöffnet. Um 23 Uhr gehen dann auch die großen TV-Sender BBC, Sky News und ITV News mit ihren "Exit Polls" (Nachwahlbefragungen) heraus. Allerdings: Aufgrund des britischen Wahlsystems sind diese noch weniger aussagekräftig als in Österreich oder Deutschland.
Mehr über die britischen "Exit Polls" auf der BBC-Website (Englisch)
Mit ersten ausgezählten Wahlkreisen ist ab ca. 2 Uhr früh zu rechnen. Der Wahlsieger bzw. die Höhe des Wahlsiegs (absolute oder relative Mehrheit) stehen dann erst bis Freitag früh fest. Mit einem offiziellen Endergebnis ist ohnehin erst im Laufe des Freitags zu rechnen.
Wie ist das mit Oberhaus und Unterhaus?
Auch wenn die Namen anderes vermuten ließen, ist das Unterhaus ("House of Commons") jene Körperschaft, welche die überragende politische Stellung hat.
Anders als dem Unterhaus, das heute Donnerstag neu gewählt wird, fehlt dem britischen Oberhaus ("House of Lords") die Legitimation durch Wahlen der Bevölkerung. Die meist adeligen Mitglieder dieser zweiten Kammer werden durch die Queen auf Vorschlag des Premierministers oder durch eine Kommission ernannt.
Wie geht es nach der Wahl weiter?
Bei klaren Mehrheitsverhältnissen beauftragt Königin Elizabeth II. den Wahlsieger mit der Bildung einer Regierung. Sollte es zu keiner klaren Mehrheit kommen („hung parliament“), müssen zuvor Verhandlungen über eine Koalition oder die Duldung einer Minderheitsregierung stattfinden. Die Konservativen von Premierminister Boris Johnson haben derzeit kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen. Mit der nordirisch-protestantischen DUP, die Johnsons Vorgängerin Theresa May nach der Wahl 2017 stützte, hat sich Johnson im Streit über seinen Brexit-Deal überworfen. Die Umfragen sehen ihn jedoch auf Kurs zu einer eigenen Mehrheit.
Was wird aus dem Brexit?
Sollte Boris Johnson eine klare Mehrheit erreichen, könnte er schon bald mit der Ratifizierung seines Brexit-Abkommens beginnen. Zusammentreten soll das Parlament erstmals wieder am 17. Dezember. Johnson kündigte bereits an, noch vor Weihnachten über seinen Austrittsdeal abstimmen zu lassen. Der EU-Austritt soll dann am 31. Jänner vollzogen werden.
Anschließend würden die komplizierten Verhandlungen über ein eigenes, neues Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU beginnen, das bis spätestens Ende des Jahres 2020 in Kraft treten muss. Dann endet die im Brexit-Deal vereinbarte Übergangsfrist.
Eine Verlängerung der Frist wäre zwar bis Ende Juni noch möglich, doch das hat Johnson bereits ausgeschlossen.
Sollte Corbyn gewinnen, will er innerhalb von drei Monaten einen neuen Brexit-Deal mit enger Anbindung an die EU aushandeln und sechs Monate später den Briten in einem Referendum vorlegen. Die Alternative wäre ein Verbleib in der EU.