Politik/Ausland

Coronavirus: Schweden hat "Tragweite nicht begriffen"

"Was hier passiert, ist ein Hochrisiko-Experiment“, warnt die Virologie-Professorin Cecilie Söderberg-Nauclér des Stockholmer Karolinska-Universitätskrankenhauses über ihr Land. "Schweden muss mehr tun“, kritisiert auch die Weltgesundheitsorganisation WHO laut CNN. Denn in dem nordischen Land geht das öffentliche Leben weiterhin seinen fast normalen Gang – in den Straßencafés genießen die Menschen die Frühlingssonne, die Grundschulen und Kindergärten haben weiterhin geöffnet.

Der "Staatsepidemologe“ Anders Tegnell, der die rot-grüne Regierung stark beeinflusst, glaubt nicht an den "Lockdown“, sondern an die langsame Entwicklung einer Herdenimmunität, bei gleichzeitigem Schutz der Gefährdeten. Das Kalkül: Sind 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert, gilt das Virus als besiegt. Bisher hielt der 63-Jährige jedem Druck stand, die Regierung unter dem Sozialdemokraten Stefan Löfven sowie ein guter Teil der Öffentlichkeit des Landes stehen weiter hinter ihm.

"Die Allgemeinheit hat die Tragweite bisher nicht begriffen“, so Jan Lötvall, Medizinprofessor aus Göteborg, neben Söderberg-Nauclér einer der Unterzeichner des Appells von 22 Wissenschaftern, die "schnelle und radikale Maßnahmen“ fordern.

Verwiesen wird zudem auf Finnland, wo seit Mitte März eine Abriegelung des öffentlichen Lebens herrscht. Dort gibt es statistisch 11,6 Tote Einwohner pro Million – in Schweden hingegen 101,4 Personen pro Million. Doch Tegnell erklärt, dass seine Kollegen "vollkommen unrecht" hätten, dass Schweden die Covid-19-Toten penibler erfassen würde und sich so die Zahl der Toten nicht mit anderen Ländern vergleichen ließen.

Der ehemalige schwedische Ministerpräsident und Außenminister Carl Bildt von den Liberalkonservativen ist dennoch nicht zufrieden mit dem Vorgehen der aktuellen Regierung.

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Mehr als 1.200 Tote

Die Opposition stellt den schwedischen Weg nicht in Frage – doch wie lange noch? Denn derzeit ziehen dunkle Wolken auf: Am Dienstag kamen 114 neue Todesfälle hinzu, gestern 170. In dem Land mit rund zehn Millionen Einwohnern sind mehr als 1.200 Menschen gestorben, mehr als 11.000 als Infizierte gemeldet. Zudem ist das Virus SARS-CoV-2 bis auf die Insel Gotland in jeder Region Schwedens in die Altersheime vorgedrungen – dabei war Tegnells Strategie ausdrücklich der Schutz dieser besonders gefährdeten Gruppe. Es fehlte an Tests und Schutzausrüstung für die Mitarbeiter.

Die Virologie-Professorin Söderberg-Nauclér empfahl dem Staatsepidemologen, den Rücktritt einzureichen.