Politik/Ausland

Britisches Unterhaus: "Mutter der Parlamente" ist laut wie ein Pub

Sehr ungewöhnlich erscheinen Kontinentaleuropäern die Sitten des britischen Unterhauses. Die Abgeordneten johlen, grölen und lärmen, legen die Füße auf die Stuhllehnen und haben nicht einmal alle Platz. Man drängt sich zusammen, eine Regierungsbank gibt es nicht, stattdessen blicken sich Regierungspartei und Opposition direkt in die Augen - nur zwei Degenlängen voneinander entfernt. "Order! Order!" ruft der Speaker, der Parlamentspräsident, ein ums andere Mal. Aber in diesen Haufen lässt sich keine Ordnung bringen.

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In der "Mutter aller Parlamente" geht es zu wie im Pub. Sie ist als "beste Kneipe Londons" bekannt, weil in mehreren Bars mit Spitznamen wie "Kreml" und "Ehebrecher-Bar" länger als sonst Alkohol ausgeschenkt werden darf. 2017 musste eine berüchtigte Bar nach einer Kneipenschlägerei sogar zeitweise geschlossen werden.

Gleichzeitig werden jahrhundertealte Formen gewahrt. So ist der Speaker streng genommen der einzige, mit dem die Abgeordneten reden. Auch in der Debatte dürfen sie sich nicht direkt ansprechen, schon gar nicht mit Namen. Einzig korrekt ist folgende Ausdrucksweise: "Mr. Speaker, das Ehrenwerte Mitglied für (den Wahlkreis) Bexleyheath und Crayford redet mal wieder völligen Unsinn."

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Freie Rede

Spickzettel sind verpönt. Man redet frei - und wer das nicht kann, hat keine Chance. Daneben wird von jedem Abgeordneten - weitaus stärker als in Deutschland - erwartet, die Belange seines Wahlkreises zu vertreten. Regelmäßig kommt es in der Fragestunde des Premierministers am Mittwochmittag vor, dass sich zum Beispiel während einer erhitzten Irakdebatte plötzlich ein Hinterbänkler zu Wort meldet und fragt: "Was sagt diese Regierung zu der folgenschweren Schließung des Postamtes auf der Hauptgeschäftsstraße meines Wahlkreises?" Die einzig korrekte Reaktion des Premierministers ist dann, möglichst frei von Ironie, zu antworten: "Mr. Speaker, der Ernst der Lage im Wahlkreis des Ehrenwerten Mitglieds für XY ist mir voll bewusst..."

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Der Saal des Unterhauses mit seinen grünen Ledersitzen ist schlicht gehalten; schließlich ist dies in der englischen Originalbezeichnung das "House of Commons", das Haus der einfachen Leute - nicht der hohen Herren, der Lords, die ein paar Gänge weiter wie in einem Dom residieren. Die Lords des Oberhauses sind heute weitgehend entmachtet. Überhaupt sagt man, in Großbritannien herrsche für die Dauer einer Legislaturperiode jeweils eine "Parteidiktatur": Das Mehrheitswahlrecht, wonach in jedem Wahlkreis immer nur der mit den meisten Stimmen einen Parlamentssitz bekommt und alle anderen leer ausgehen, führt normalerweise zu sehr klaren Mehrheiten.

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So verzweigt wie der Palast von Westminster mit seinen 4,8 Kilometer langen Korridoren und 1.100 Räumen sind auch die bis ins Mittelalter zurückreichenden Gesetze und Traditionen, in die die Parlamentarier eingebunden sind. In den 70er Jahren wurde dieses System oft als eine der Ursachen für die damalige Wirtschaftsmisere Großbritanniens genannt. Doch kein britischer Politiker wäre deshalb auf die Idee gekommen, das System zu "reformieren". Der Respekt vor Tradition und Geschichte - das ist es, was ein Brite unter der "Würde des Hohen Hauses" versteht.