Warum der Anschlag in der Türkei gerade jetzt passierte
Von Caroline Ferstl
Die Fotos der Überwachungskamera, die bereits kurz nach dem Anschlag am Mittwochnachmittag im Netz kursierten, zeigten eine schwarzhaarige, unverhüllte Frau und einen Mann, beide mit einem großen, schwarzen Rucksack und einer Schusswaffe mit Schalldämpfer in der Hand. Fünf Menschen wurden bei dem Angriff auf die türkische Waffenproduktionsfirma Turkish Aerospace Industries am Stadtrand von Ankara getötet, 22 wurden verletzt.
Noch am späten Mittwochabend sprach die türkische Regierung von ersten Informationen, die den Anschlag auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zurückführten, die in der Türkei, den USA, Großbritannien und der Europäischen Union als Terrorgruppe eingestuft wird. Beide Angreifer sollen als PKK-Mitglied identifiziert worden sein. Die Türkei griff noch in der Nacht Quartiere der PKK im Nordirak und der syrischen Kurdenmiliz YPG, die als Ableger der PKK betrachtet wird, aus der Luft an. Präsident Recep Tayyip Erdoğans befand sich zu dem Zeitpunkt in Russland beim BRICS-Gipfel.
Der Anschlag ereignete sich just zu einem Zeitpunkt, bei dem eigentlich der Versuch eines neuen Friedensprozesses zwischen der türkischen Regierung und der Kurdenmiliz möglich schien.
Im seit Jahrzehnten andauernden Konflikt zwischen der Türkei und der militanten PKK, die Autonomie und mehr Rechte für die kurdische Bevölkerung fordert, und der zu Terroranschlägen, militärischen Luftangriffen und Tausenden Todesopfern führte, deutete zuletzt vieles auf eine überraschende Entwicklung hin. Es begann mit einem öffentlichkeitswirksamen Handschlag und Gesprächen zwischen Erdoğans Koalitionspartner, der eigentlich rechtsextremen, ultranationalistischen MHP, und der pro-kurdischen DEM-Partei im türkischen Parlament – eine Sensation und eine Art Stimmungstest für die ultranationalistischen Wähler, glauben Beobachter.
Freilassung gegen Verfassungsänderung?
Kurz vor dem Anschlag wurde dann sogar eine Rede des seit 25 Jahren inhaftierten und auf einer Gefängnisinsel isolierten PKK-Führers Abdullah Öcalan, dem Staatsfeind Nummer eins in der Türkei, im Parlament sowie eine mögliche Freilassung in Aussicht gestellt, sollte er dem Terror abschwören. Die Meldung sorgte für Schlagzeilen in der Türkei.
Ganz uneigennützig sind die Annäherungsversuche aber nicht: Viele meinen, dass es Präsident Erdoğan bei der Annäherung um die Stimmen der pro-kurdischen DEM-Partei im Parlament geht. Die bräuchte es nämlich für eine Verfassungsänderung, und die wäre nötig, damit Erdoğan spätestens 2028 für eine weitere Amtszeit als Präsident kandidieren könnte. Erdoğans Regierung hat 323 Stimmen, er bräuchte 361 Stimmen sowie die Zustimmung der Türken bei einer Volksabstimmung.
Die Annäherung wurde nicht nur deswegen als unaufrichtig empfunden: "Die Regierung kann Öcalan nicht freilassen. Das kann sie sich nicht leisten", sagt der Politologe Hüseyin Bağci von der Ankara Global Advisory Group. Schon 2015 war eine von Erdoğan in Aussicht gestellte Freilassung Öcalans an der Meinung der Öffentlichkeit gescheitert und sorgte für Stimmverluste für Erdoğans AKP bei den Wahlen 2015.
Entweder, so mutmaßen Politikbeobachter, war der Anschlag nicht mit der PKK-Führung koordiniert, sondern wurde von einem unabhängig agierenden Arm durchgeführt. Oder er sei als Art Nachricht zu verstehen, dass man mit der Annäherung über Öcalan nicht einverstanden ist.
Laut Bağci zeige der Anschlag, dass der seit 25 Jahren inhaftierte Öcalan keine große Relevanz mehr habe für die PKK: "Er kann die PKK nicht mehr kontrollieren, hat an politischer Kraft und charismatischer Stärke eingebüßt." Der Anschlag hat sich persönlich gegen den Präsidenten gerichtet, sagt Bağci, "er fand im Stadtteil Kazan statt, genau während Erdoğan beim BRICS-Gipfel im gleichnamigen russischen Kazan weilte."
Ende der Annäherung?
Etwa 20 Prozent der Menschen in der Türkei haben kurdische Wurzeln, ihre politischen Ansichten sind alles andere als homogen. Viele sind pro Erdoğan, allerdings hat der Präsident bei den vergangenen Wahlen im kurdischen Lager an Stimmen verloren; andere werfen ihm vor, die Diskriminierung der Kurden in der Gesellschaft verstärkt zu haben. Wieder anderen geht es weniger um die ethnische Anerkennung, sie leiden unter der miserablen wirtschaftlichen Lage der Türkei – viele ärmere Landesteile der Türkei sind Kurdengebiete.
Diese Tage soll Öcalan erstmals seit Jahren Besuch empfangen haben, von seinem Neffen und Abgeordneten der DEM-Partei. Bağci glaubt, dass der Anschlag weitere Annäherungsversuche stoppen und Erdoğans gewünschte Verfassungsänderung aufschieben dürfte. "Anderes wäre der Öffentlichkeit nicht zu erklären", sagt Bağci.
Aktualisierung am 25.10.2024: Die Kurdische Arbeiterpartei PKK hat den Anschlag für sich reklamiert. Das schrieb die PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF unter Berufung auf die HPG, den militärischen Arm der Organisation. Der Anschlag sei von einem autonomen Team des "Unsterblichkeitsbataillons" ausgeführt worden. In der HPG-Mitteilung hieß es, der Anschlag sei lange geplant worden und habe nichts mit der aktuellen politischen Diskussion zu tun.