"Fahren Sie so, als würde das Motorrad über keine Assistenzsysteme verfügen"
Daniel Lindinger, Chef-Instruktor im ARBÖ-Fahrsicherheits-Zentrum Wien, im Interview.
KURIER: Toter-Winkel- und Spurwechsel- Assistenz, Front-Kollisions-Warner, Abstand- Tempomat - immer mehr Motorräder haben eine ganze Palette an Fahrassistenz- Systemen an Board. Bringen diese wirklich mehr Sicherheit für Zweiradfahrer?
Daniel Lindinger: Ja, absolut. Vor allem Assistenzsysteme, die intuitiv eingreifen und einen Sturz bzw. Unfall verhindern, bringen mehr Sicherheit.
Welche Systeme haben Sich Ihres Wissens nach besonders gut bewährt? Wo lohnt es sich, zu investieren oder gar nachzurüsten?
Ein absoluter Gamechanger ist mit Sicherheit das ABS (Antiblockiersystem). Es verhindert ein Blockieren der Reifen beim Bremsen, daher kann weiter gebremst werden, auch wenn die Haftungsgrenze überschritten wurde. Abgesehen vom ABS bzw. Kurven-ABS (nächste Evolutionsstufe) ist die Traktionskontrolle ein entscheidender Sicherheitsgewinn.
Trotz aller Technik bleibt der Faktor Mensch: Etwa 90 Prozent aller Verkehrsunfälle geschehen aufgrund menschlicher Fehler und Fehlverhaltens. Woran liegt das?
Aus meiner Sicht ist eine falsche Selbsteinschätzung oder fehlende Routine die Ursache. Beim Motorradfahren ist die Blicktechnik und die Fahrzeugbedienung das Fundament der Fahrsicherheit. Häufig wäre ein Sturz beim Kurvenfahren durch mehr Schräglage vermeidbar, jedoch kann sich die fahrende Person nicht überwinden, mehr Schräglage zu fahren. Das Motorrad kommt von der Fahrbahn ab und spätestens im Bankett ist ein Sturz kaum vermeidbar. Daher lautet die Devise: üben, üben, üben!
Verleiten mehr Sicherheitsausstattungen an der Maschine, risikobereiter zu fahren, da man sich von der Technik geschützt glaubt?
Ich würde vielleicht nicht zwangsläufig risikobereiter sagen, jedoch geht man sorgloser an die Grenzen des Möglichen und eventuell auch über diese hinaus. Immerhin hat man die Sicherheit der Assistenzsysteme an Bord. Jedoch ist der Grat zwischen „es geht sich gerade noch aus“ und einem Sturz ein äußerst geringer. Daher lautet die Empfehlung: Fahren Sie so, als würde das Motorrad über keine Assistenzsysteme verfügen.
Die beste Technik kann nur wirken, wenn man sie zu bedienen weiß: Wie sieht es mit dem Konsumentenwissen aus? Ist man bereit, sich mit der Wirkung, Funktionsweise und den Einstellmöglichkeiten von Assistenzsystemen wirklich ausreichend auseinander zu setzen?
Grundsätzlich ist zu erwähnen, dass insbesondere im Motorradsektor ein gutes Wissen über die verschiedenen Assistenzsysteme vorhanden ist. Die Menschen setzen sich proaktiv mit ihrem Hobby auseinander und sehen das Motorradfahren nicht nur als Mittel zum Zweck. Gelegentlich ist es jedoch notwendig, die motorradfahrenden Personen auf den aktuellen Stand der Technik hinzuweisen, weil häufig veraltete Handlungsketten bzw. überholtes Wissen im Hinblick auf Fahrzeugtechnik, Bremstechnik oder Assistenzsysteme verbreitet wird.
Wie wichtig sind Trainings – etwa für das Kurven-ABS?
Äußerst wichtig. Ich merke selbst jedes Jahr zu Saisonbeginn, dass der Richtungsblick nicht mehr optimal passt, dass der Druckaufbau auf der Bremse besser sein könnte und der Einlenkpunkt am Kurvenbeginn zu früh ist. Ebenso sind die Abwehrhandlungen in der Notsituation zu üben. Nur durch Wiederholungen kann ein Handlungsmuster geprägt werden, und im Fall des Falles im Bruchteil einer Sekunde aus dem Muskelgedächtnis abgerufen werden, um einen Unfall oder Sturz zu vermeiden.
Ein Blick in die Zukunft: Bei Assistenzsystemen gibt es stetige Weiterentwicklung: Was werden die Sicherheitsausstattungen der Zukunft können?
Aktuell sind die ersten Motorräder mit einem Abstandsradar verfügbar. Dieser ist mit dem ACC (Adaptive Cruise Control - Tempomat mit Bremsfunktion) vergleichbar. Zukünftig ist es geplant, Fahrzeuge miteinander zu vernetzen. So können FahrerInnen frühzeitig vor Gefahrensituationen gewarnt werden und das Tempo entsprechend reduzieren. Weiters wird gegenwärtig ein Spurhalteassistent entwickelt, der bei Untätigkeit der fahrenden Person aktiv auf die Fahrspur Einfluss nehmen soll.
2023 kamen laut vorläufigen Daten 82 Motorradfahrer ums Leben – fast 50 Prozent mehr als im Jahr davor. Wie kann man sich diese Steigerung erklären?
Im Hinblick auf die verstorbenen Motorradfahrer und Fahrerinnen muss jedenfalls ein längerer Zeitraum betrachtet werden. Im Zeitraum von 2013 bis 2021 sind durchschnittlich 83 Personen pro Jahr beim Motorradfahren ums Leben gekommen. Daher ist fraglich, warum im Jahr 2022 lediglich 55 Personen tödlich verunfallt sind. Aus meiner Sicht sind äußere Einflüsse der Grund, wie z.B.: Temperatur, Niederschlagshäufigkeit und dergleichen. Um eine valide Aussage treffen zu können, müssten die gefahrenen Kilometer die Grundlage für die Berechnung sein. Beispielsweise: x Personen sind auf 1000 gefahrene Kilometer verunfallt.
56 Prozent der im Vorjahr verunglückten Motorradfahrer waren zwischen 45 und 64 Jahren alt. Oftmals Wiedereinsteiger. Wo liegen hier die Gründe?
Oftmals sind die Fahrzeuge, mit denen die Personen in dieser Altersgruppe unterwegs sind, jene, die mit entsprechend hoher Leistung, Hubraum und Drehmoment ausgestattet sind. Wiedereinsteiger unterschätzen dies. Auch die nicht vorhandene Praxis bei Wiedereinsteigern spielt eine große Rolle. Häufig ist die letzte Fahrt einige Jahrzehnte her. Nach einer gewissen Zeit (2-3 Jahre) denken viele MotorradfahrerInnen, dass sie genug Übung und Können haben. Dies führt zu prekären Situationen, die häufig in einem Unfall resultieren.