Meinung/Mein Tag

Das größte Projekt unseres Lebens

Sie sagt, sie kann ziemlich treffsicher erkennen, ob ihre Klienten lügen, wenn es um Treue in ihrer Beziehung geht. Elisabeth Lindner arbeitet seit 30 Jahren als Psychotherapeutin. Sie spricht ruhig und bedacht. Die Konkurrenz, vor allem unter jüngeren Paaren, bereitet Lindner Sorgen. „Der macht Karriere, die hat schon ein Haus, der hat schon Kinder – was ich da alles höre!“, erzählte mir die Therapeutin. „In den Zwanzigern gehen sie aus und verhalten sich total idealistisch. Dann kommen die Dreißiger und alle sind plötzlich beschäftigt damit, Kapital aufzutreiben, eine Eigentumswohnung anzuschaffen oder ein Haus zu kaufen.“ Da beginne sofort eine andere Dynamik in der Beziehung. „Ich mache diese Paare darauf aufmerksam, dass sie die anderen Werte auch wieder in die Beziehung hereinholen sollen. Das, was sie geliebt haben an dem anderen. Die schönen Reisen, die Unbeschwertheit.“ Diese Dinge verschwänden auf einmal. Das wirke sich nicht gut aus. Was sie auch immer wieder erschrecke, sei die Unbedachtheit bei der Partnerwahl.

Da, wo man eigentlich ganz genau hinsehen müsste, wenn man eine realistische Beziehung eingeht.

„Liebe auf den ersten Blick“ ist eine Formulierung, die Lindner daher nicht sonderlich zusagt. Sie würde es viel eher „Verliebtheit auf den ersten Blick“ nennen. Denn Liebe sei das, was nach dem hundertsten Blick passiert. „Wenn ich diesen Menschen in

verschiedensten Situationen gesehen habe, etwa, wie mein Mann mit seiner Mutter umgeht oder wie er in Stress- oder Streitsituationen agiert. Ich habe ausgesprochen gescheite Klienten hier sitzen. Aber wenn ich nach dem Fundament der Beziehung frage, was sie dazu gebracht hat, ein Paar zu werden, dann kommt sehr oft nichts Tiefgehendes.“ Wir überlegten uns so viel, beruflich oder wenn wir uns eine Wohnung anschaffen. Aber bei der Partnerwahl, da würden die Menschen oft unüberlegt handeln. Schließlich ginge es da aber um das vermutlich größte Projekt unseres Lebens.