Meinung/Kolumnen/sex in der freizeit

Sex: Bam. Bam. Nächste Nummer

Orgasmen mutieren zu To-Do-Punkten.

Gabriele Kuhn
über eine Sex-App

Unlängst googelte ich wieder einmal den Begriff „Sex“ – weil ich vor allem eines wissen wollte: Gibt es einen Wikipedia-Eintrag dazu und falls ja – was steht da genau drin? Es gibt schließlich zu fast allem und fast jedem einen Wikipedia-Eintrag. Da wird zum Beispiel die Anatomie, Physiologie sowie die embryonale Entwicklung der Klitoris genauso detailliert aufgedröselt wie der Begriff Schnürsenkel. Sie glauben, dazu gibt’s nix zu sagen? Nun, bitteschön: „Das Wort ,Senkel’ ist eine Substantivbildung vom Verb ,senken’ (,sinken machen’) und bezeichnete ursprünglich einen Anker (ahd. ,Senkil’ = Anker). Daraus leitete sich dann die Bedeutung von Lot (Senkblei) ab, mit dem man eine ,senkrechte’ Linie ziehen konnte.“
Doch zurück zum Sex. Den definiert das Online-Kompendium so: „Unter Sex versteht man die praktische Ausübung von Sexualität. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet Sex sexuelle Handlungen zwischen zwei oder mehreren Sexualpartnern, insbesondere den Geschlechtsverkehr und vergleichbare Sexualpraktiken, im weiteren Sinne auch die Masturbation.“ Zum Sinn und Zweck von Sex wird festgehalten: „Sex erfüllt zahlreiche Funktionen. Er befriedigt die Libido, dient in Form des Geschlechtsverkehrs der Fortpflanzung und drückt in der Regel als wichtige Form der sozialen Interaktion Gefühle der Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe aus.“ Sehr schön. Jetzt ist nur noch offen, weshalb die Sexkolumnistin Wikipedia zum Thema bemühen muss. Nun, ich brauchte Ortung – Ortung und Orientierung zum Thema „Wozu Sex?“. Denn zuvor hatten mich zwei Geschichten nachdenklich gemacht. Etwa jene von Lotta, erschienen im Magazin „Neon“, die sich zum Ziel gesetzt hat, mit 100 Menschen zu schlafen. Und das in einem Tagebuch zu dokumentieren, um die „intimsten Details“ dieser Begegnungen aufzuzeichnen. Menschen, nummeriert, werden gelistet – hintereinander, zuweilen gleichzeitig, der sexuelle Akt beschrieben wie eine Handlungsanleitung: „Ich lasse mich noch von anderen vögeln und blase dabei zwei oder drei anderen einen.“ Bam, bam – nächste Nummer, nächste Geschichte. Fragen tauchen auf: Wie viele fehlen noch auf den Hunderter? Wissen alle Sex-Partner, dass sie eine Nummer in einer Abfolge von Nummern sind? Gibt es in dieser numerischen Abfolge dokumentierter Ficks auch Raum für Liebe, Zärtlichkeit, Intimität, Nähe? Sex – „fließbandisiert“, zum Zweck degradiert. Dazu passt ein Gedanke von Ingeborg Bachmann: „Wer die Geheimnisse des Bettes verrät, verdient die Liebe nicht.“

Zweite Geschichte: Wie definiert jemand Sex, wenn er eine App namens BangFit erfindet, die jede erotische Begegnung auf Praktisches wie Kalorienabbau und „Gym-Effekt“ reduziert – Motto: Vögle dich schlank. Orgasmen mutieren zu To-Do-Punkten. Milch holen, Wäsche waschen, bumsen, blasen. Check! Erledigt! Fertig! 500 Kalorien verbrannt – und, siehe oben – der 57. Typ auf meiner „100 Typen to fuck before you die-Liste“ abgehakt. Auch wenn es manchen altmodisch erscheinen mag, frage ich: Wo bleibt da die Seele der Sexualität, wo die hohe, faszinierende, betörende Kunst der Erotik, wenn der Mensch sie auf etwas reduziert, das „erledigt“ gehört. Deshalb war ich ein bisserl froh über Wikipedias Worte: „Sex drückt in der Regel als wichtige Form der sozialen Interaktion Gefühle der Zärtlichkeit, Zuneigung und Liebe aus.“ Das darf gerne so bleiben.

gabriele.kuhn@kurier.at