Meinung/Gastkommentar

Wo war Kurz bürgerlich?

Wahrscheinlich verstehen viele Menschen unter bürgerlich, dass man Tischmanieren und Bücher besitzt, sich gut kleidet, anständig spricht, höflich auftritt, höhere Bildung genossen hat und wenig finanzielle Sorgen hat. Bloß: Das ist längst nichts mehr, was nur auf WählerInnen der ÖVP zutreffen würde. Es gibt die Bürgerlichen in allen Parteien.

Das Bürgertum fand sich einst im Widerspruch und auch Widerstand zum Adel. Bürger waren jene, die es durch eigene Leistung geschafft hatten, nicht durch Geburt. Bemerkenswert. Gilt die ÖVP doch heute als vehementeste Gegnerin der Besteuerung von Erbschaften oder großen Vermögen und – ein kurzer Gedanke an Fritz Neugebauer genügt – nicht unbedingt als leistungsfreundliche Partei, sondern eher als Besitzstandswahrerin und Adorantin des leistungslosen Einkommens.

Das Lagerdenken ist ein Relikt des vorigen Jahrtausends und heute kaum brauchbar. Als Kronzeuge kann man ausgerechnet Andreas Unterberger aufrufen, der das bereits vor Jahren erkannt hat, dass es kein bürgerliches Lager gibt, weil die Bürgerlichen eben ohnehin in allen Parteien sitzen und bürgerlich per se kein politischer Begriff ist: „Wer also heute in der ÖVP die Partei als „bürgerlich“ definiert, hält die Partei eigentlich für inhaltsleer“.

Inhaltsleere trifft auf Sebastian Kurz auch zu, doch wirklich bürgerlich ist der Noch-Klubobmann nicht. Aber er bedient eine Gruppe verlässlich: „Der Kleinbürger verkörpert alle problematischen Eigenschaften des Bürgers. Er ist kleinlich, berechenbar, feige, spießig, auf seinen Vorteil bedacht ... er ist argwöhnisch gegen alles Fremde und den Fremden“, sagt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk. Man könne sagen, der Kleinbürger sei „die Klientel der Freiheitlichen“. Nun, mittlerweile ist der Kleinbürger die Klientel der neuen ÖVP von Sebastian Kurz. Zugegeben, im Unterschied zu Schmid schrieb Kurz in den Chats „A****“ und nicht „Oa****“, aber Ausdruck von Bildungsbürgertum ist das im Zweifel nicht.

Anstand! Auch ein bürgerlicher Wert, oder? Der Umgang mit den Vertretern der katholischen Kirche war zwar anständig, aber eben nur anständig daneben.

Familie! Der Familienbegriff der neuen ÖVP lässt sich gut dokumentiert nachlesen. „Kriegst eh alles, was Du willst!“, wenn man eben zur Familie gehört, wie Thomas Schmid. Familien, die auf ganztägige Nachmittagsbetreuung angewiesen sind, sind da eher nicht mitgemeint. Was also ist bürgerlich? Ein lieber bürgerlicher Freund meint, es sei „den Ausgleich zu suchen“ und sich gegenseitig in der Haltung zu begegnen, dass man Teil eines größeren Ganzen ist und sein Gegenüber respektiert. Andere Meinungen zuzulassen, zu streiten, die beste Lösung zu suchen. „Message Control“ und jeglicher Führerkult hingegen sind nicht bürgerlich.

Rudolf Fußi ist Politik- und Kommunikationsberater.