Meinung/Gastkommentar

Minenräumung &. Co: Solidarische Gretchenfrage

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine muss die europäische Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur neu gedacht werden. Jeder EU-Mitgliedstaat ist hier gefordert, seinen Beitrag zu leisten. Die Ausgangslage ist komplex: Die EU-Mitgliedsländer kooperieren zwar im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, jedes Land verfügt jedoch weiter über eine eigenständige, kostspielige Verteidigung, die europäische Abstimmung ist noch nicht weit genug gediehen. Von den 27 EU-Mitgliedstaaten sind - so Schweden bald NATO-Mitglied wird – 23 Länder auch Teil des westlichen Verteidigungsbündnisses und damit im Falle eines Angriffs unter einem Sicherheitsschutzschirm, der von den USA garantiert wird.

Die EU-Beistandsklausel, die aktuell ins Zentrum der Debatte rückt, verweist nicht umsonst auf die NATO als Fundament ihrer kollektiven Verteidigung. Sie verpflichtet aber vor allem die EU-Mitgliedstaaten – im Falle eines Angriffs – zur gegenseitigen Hilfeleistung und ist somit weiterführender als die vertraglichen Verpflichtungen der NATO. Inwieweit könnten sich die Europäer jedoch selbst helfen? Wird sich die EU stets auf Rückendeckung aus Washington verlassen können? Die praktische Relevanz der Beistandspflicht, ihre rechtliche und politische Auslegung gehören jedenfalls breit diskutiert. Welche Art der Hilfe geleistet wird, obliegt dem Ermessen jedes EU-Mitglieds und hängt letztlich von der Natur des Angriffs ab.

Die Unterstützung muss nicht zwingend militärisch sein, denn der besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik einzelner Staaten bleibt unberührt. Handlungsspielräume für Hilfestellungen, im humanitären und nicht-militärischen Bereich, sind damit für neutrale Länder durchaus gegeben. Aber es könnten eben auch Situationen eintreten, wo dieser besondere Charakter sehr wohl unter Druck gerät. Wie reagiert etwa das neutrale – und zugleich solidarische – Österreich bei einem Angriff auf einen EU-Mitgliedsstaat? Was früher undenkbar war, rückt heute in den Bereich des Möglichen. Daher gilt es, alle Szenarien, ohne Tabu durchzuplanen. Auch jene, die unsere militärische Neutralität gehörig ins Wanken bringen könnten.

Ähnliches gilt für internationale Konflikte, wie den Krieg in der Ukraine. Auch hier sollten wir rasche und professionelle Hilfe ermöglichen. Während öffentliche Scheindebatten hierzulande – Stichwort: Entsendung von Soldaten – an der tatsächlichen Sachlage vorbeigehen, schafft es die Schweiz beispielsweise, 7,5 Mio. Franken für humanitäre Minenräumung bereitzustellen. Das sollte uns – mit einem proaktiveren Verständnis unserer Neutralität und auch im Sinne der geistigen Landesverteidigung – doch auch gelingen. Die Welt ändert sich, neue geopolitische Herausforderungen tun sich auf. Wir sollten darauf vorbereitet sein.

Paul Schmidt ist Generalsekretär der Österr. Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE)