Plötzlich zwangsweise Analphabetin
Von Heinz Wagner
Stell dir vor, du lernst brav, bist aber trotzdem nicht das was landläufig so mit Streberin - Burschen sind mitgemeint ;) - verbunden ist. Sondern völlig hilfsbereit, für jede und jeden in der Klasse da. Ganz ohne Hintergedanken. Das geben dir eben deine Eltern mit auf den Lebensweg. Streiten sich in deiner Nähe andere, versuchst du stets schlichtend einzugreifen. Deswegen machst du nicht nur eine Ausbildung zur Streitschlichterin, deine Kolleginnen und Kollegen wählen dich zu ihrer Vertreterin, zur Klassensprecherin.
Dass deine Eltern aus einem anderen Land kommen, ja du selbst die allerersten Jahre auch woanders als in Österreich verbracht hast, daran kannst du dich gar nicht wirklich erinnern. Wer kann das schon – aus den frühen Anfängen basteln sich die meisten doch „Erinnerungen“ aus Fotos, Videos und Erzählungen.
Dann kriegst du schon irgendwie mit, deine Eltern sind in Sorge, wenn Briefe vom Amt kommen. Das spürst du. Aber meist sagen sie nichts, deuten höchstens an, dass es da gewisse Schwierigkeiten gibt, „aber damit wollen wir euch nicht belasten, ihr sollt euch darauf konzentrieren, gut zu lernen, einen guten Schul- oder gar Uni-Abschluss oder eine andere, aber jedenfalls eine Ausbildung zu machen. „Ihr sollt’s mal besser im Leben haben!“ So wie’s praktisch alle Eltern wollen – auch wenn manche das immer wieder in Frage stellen. Wie die dazu kommen? Nur, weil jemand woanders auf die Welt gekommen ist, will doch keine Mutter, kein Vater, dass ihre Kinder nix lernen und es nicht besser haben sollen.
In einem fremden Land mit fremder Sprache und Schrift
Und dann wirst du von heute auf morgen – manchmal liegen auch noch ein paar Tage eingesperrt dazwischen – in dein angebliches Heimatland abgeschoben. Das kennst du kaum, warst vielleicht, sogar wahrscheinlich in den einen oder anderen Ferien bei Oma und Opa oder einer Tante, einem Onkel… Von der Sprache verstehst und kannst du gerade so viel reden, dass du Small-Talk mit Verwandten, vielleicht dem einen oder anderen Kind beim Spielen im Hof reden, möglicherweise sogar einkaufen gehen kannst. Aber von jetzt auf gleich bist du Analphabetin. Diese Schrift – nicht einmal die geringste Ähnlichkeit mit jener, mit der du deine ganze bisherige Schulzeit geschrieben und sie gelesen hast. Einfach nix.
Gut, das Letztere gilt nicht für alle rund drei Dutzend Kinder und Jugendliche, die in der ersten Hälfte des Vorjahres aus Österreich abgeschoben worden sind. Fünf der 34 Kinder und Jugendlichen mussten/müssen nur ein paar Sonderzeichen dazulernen – für Slowakisch und Albanisch. Weitere fünf müssen zwischen der ihnen bekannten und einer für sie neuen Schrift switchen (Serbisch). Zwei Dutzend weitere sind aufgeteilt auf drei verschiedene Schriften – Kyrillisch (Ukraine: 5), Arabisch (Ägypten: 4) sowie Georgisch (15; die Zahlen stammen aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung von Innenminister Karl Nehammer an die NEOS-Abgeordnete Stephanie Krisper).
Zu den 15 Kindern/Jugendlichen, die 2020 nach Georgien abgeschoben worden sind zählen Ana und Mariam (13 und 9 Jahre) noch nicht. Sie wurden erst im November „außer Landes gebracht“ wie jene die versuchen Unmenschlichkeiten zu beschönigen dies nennen.
Und nein, da geht’s nicht um Tina und ihre Verwandten, die mitten in der Nacht zum Donnerstag (28. Jänner) unter heftigem Polizei-Einsatz und mit hoher Aufmerksamkeit und dankenswerterweise Protesten und großer Solidarität ihrer Gymnasialklasse in den Flieger verfrachtet wurde. Das sind zwei Mädchen, über die der Kinder-KURIER – erst im Nachhinein erfuhr, aber die Mittelschulklasse Anas besucht hat – Link zum Bericht weiter unten.
Verfahren noch gar nicht abgeschlossen
Das Verfahren von Ana und Mariam – und ihrer Mutter -, doch hier bleiben zu dürfen, läuft im Übrigen noch. Nicht einmal das wurde abgewartet! Das wäre im Übrigen ähnlich, als hätten Verurteilte wie der Ex-Finanzminister schon ins Gefängnis müssen, solange seine Anwälte noch gegen das Urteil kämpfen.
Und selbst wenn die Verfahren, wie die Abschieber_innen behaupten, nichts Anderes zugelassen hätten, so einige Artikel der Kinderrechts-Konvention sagen schon anderes, hier sei nur einer der ersten zitiert.
Artikel 3, Absatz 1: Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.
„Keine Diskriminierung aufgrund der Herkunft, das Recht auf freie Meinungsäußerung und die angemessene Berücksichtigung dieser Meinung, der Schutz des Privat- und Familienlebens und der Familieneinheit und das Recht auf Bildung sind weitere Kinderrechte, die bei Abschiebungen von Kindern und Jugendlichen gründlich und umfassend zu prüfen sind“, schreibt. Das Netzwerk Kinderrechte – in dem fast vier Dutzend Kinder- und Jugendorganisationen vereint sind – in einer Aussendung am Donnerstag (28. Jänner 2021).
Und weiter: „Erneut appellieren wir an alle politisch Verantwortlichen, die gleichermaßen schutzwürdige und besondere Lebenssituation von jungen Menschen zu berücksichtigen. Herr Innenminister Nehammer, Herr Bildungsminister Faßmann, Herr Gesundheitsminister Anschober und Frau Familien- und Jugendministerin Raab! Die Achtung der Kinderrechte reicht von der Frage, wie bald die Schulen wieder geöffnet werden, über aktuelle Abschiebungen bis zu vermehrten Essstörungen und Depressionen bei Jugendlichen!“ - kinderhabenrechte.at
„Reisen“ in Pandemie-Zeiten
Ach ja, und dann ist da noch so eine „Kleinigkeit“. 2020 wird in die Geschichte als DAS Pandemie-Jahr eingehen, hoffentlich vom heurigen nur ein Teil. Auf den Seiten der Außenministerien oder Regierungen (fast) aller Länder der Welt stehen weltweite Reisewarnungen- für fast alle anderen Staaten.
Letzteres veranlasste die unter ihrem Künstlerinnen-Namen bekannte österreichische Kabarettistin zu einem ihrer – ebenfalls bekannten – treffsicheren kurzen Tweets – in diesem Fall unter #österreichischelogik
"Reisen nach Georgien: Verboten/ Abschieben nach Georgien: Erlaubt" (siehen Screenshot oben)
Würde übrigens die vor wenigen Tagen von SOS Mitmensch gestartete Petition „JA zur Einbürgerung hier geborener Kinder!“ - sosmitmensch.at/hiergeboren - umgesetzt, gäbe es so unmenschliche Kinder-Abschiebungen praktisch fast nicht – die meisten sind ja schon hier auf die Welt gekommen.
Wirtschaftlicher Unsinn
PS: Abgesehen vom menschlichen Leid, das hier Dutzendfach an Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern verübt wird, ist es ein volkswirtschaftlicher Unsinn: Diese genannten und andere bestens integrierten Schülerinnen und Schüler würden nach Abschluss ihrer (Aus-)Bildung arbeiten, Steuern und in die Pensionskassen (ein-)zahlen. So wie jetzt werden jeweils mit einem Schlag Bildungsinvestitionen von Steuerzahler_innen vernichtet, bei Ana und Mariam beispielsweise in Summe fast zehn Schuljahre!
PPS: Anas Mittelschuldirektor sagt übrigens zu Recht: Kinder und Jugendliche wie Ana haben sich in Wahrheit gar nicht integrieren müssen, sie sind einfach Wiener Kinder! Und er fürchtet, welche negativen Folgen es für integrations-unwillige Jugendliche haben könnte, denn was antwortet er einem solchen, wenn der/die sagt: Siehst eh, bist eine gute Wienerin/ein guter Wiener, was bringt’s?
Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Stubenbastei kämpfen für ihre Mitschülerin - mehr dazu hier