Berlin: "Schwofen" wie damals
Von Evelyn Peternel
Hell, laut, schlaflos sollen sie gewesen sein, die Berliner Nächte in den 1920ern.
Ein Jahrhundert später ist Berlin genauso, nur tönt da kein sanfter Swing von den Nachbarn herüber, sondern der Techno wummert ohrenbetäubend. Von den goldenen Jahren der Stadt, als sie mit vier Millionen Einwohnern nach New York und London die drittgrößte der Welt war (und mehr Einwohner hatte als heute!), ist eigentlich nicht viel übrig. Die Nazis, der Zweite Weltkrieg haben fast alle Gebäude zerstört.
Das alte Berlin findet man also nur, wenn man wirklich will. Aber es gibt es: In Clärchens Ballhaus (Foto) in der Auguststraße im schicken Bezirk Mitte etwa „schwoft“ man abends noch, wie es die Berlinerinnen in ihren von Coco Chanel inspirierten Hängekleidern taten. „Schwofen“, das heißt tanzen, und das nicht nur ein bisschen, sondern die ganze Nacht hindurch. „Gepooft“ (geschlafen) wird später.
Bei Solei (in Salzlake eingelegte, hart gekochte Eier) und Rixdorfer Fassbrause kann man sich an einem der Tische neben der Tanzfläche ausmalen, wie die Berliner Welt sich damals drehte. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, vor der Weltwirtschaftskrise, da feierte die Stadt, als gäbe es kein Morgen – entstanden sind da Meisterwerke wie die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, im damals berühmten und heute abgerissenen Romanischen Café am Ku’Damm signierte Else Lasker-Schüler Speisekarten, während Billy Wilder neben ihr an Drehbüchern arbeitete. Nicht zu vergessen: Die Freiheit, die Freizügigkeit! Marlene Dietrich wurde als „fesche Lola“ aus Berlin-Schöneberg zum Star, Josephine Baker schwang in den Ku’Damm-Lokalen ihre Hüften derart anziehend, dass manch’ Kritiker ihren Po als „Grießflammerie der Beweglichkeit“ anhimmelte. Vor den Lokalen, selbst vor dem noblen KaDeWe, standen derweil schummrige Gestalten und verkauften Kokain, ein Medikament, das es damals nur auf Rezept gab. Verboten wurde es in den 1930ern.
Die Berliner 1920er waren voll mit Erotik, mit Ruchlosigkeit, mit Entfesselung. Als hätte man geahnt, was kommt. Das Freie, das Tabulose ist der Stadt geblieben; Mauer, Wende und Investorenboom zum Trotz. In Schöneberg tragen die Männer auch beim Einkaufen Lack und Leder, Eckkneipen sehen aus wie Unterweltspelunken damals, und in den Clubs schwoft man zwar nicht mehr, die Nacht – oder die Nächte – wird dennoch durchgetanzt.
Nur der Zigarettenrauch fehlt.
Feiern: Clärchens Ballhaus (Auguststraße 24/25), claerchensball.haus
Essen: Das Hotel Adlon atmet noch ein wenig 1920er (Unter den Linden 77)
Führungen: Auf getyourguide.de kann man geführte Rundgänge buchen, wie „Babylon Berlin“ oder neu: „Das Leben im Berlin der 1920er-Jahre“; berlin.de