Nobelpreisträger Kenzaburo Ōe und der geheimnisvolle Koffer
Von Peter Pisa
Als seine Mutter starb, verfügte sie: In den roten
Lederkoffer mit angeblichen Dokumenten darf Kenzaburo Ōe erst zehn Jahre nach ihrem Tod schauen.
Es gibt die Vermutung: Sie dachte, das erlebt der Sohn ohnehin nicht. Denn in der Familie Ōe werden Männer nicht so alt.
Seine Mutter war nie davon begeistert gewesen, dass er über die Familie schreibt.
Über den Tod seines Vater schon gar nicht.
Fortgetragen
Als ihm die Schwester den Koffer überreichte, war Ōe über 70. Nobelpreis-Sieger war er schon (1994).
Nun hoffte er auf neue Information über den Tod seines Vaters, der 1946 im
Hochwasser ertrunken war. Kenzaburo Ōe wollte darüber den längst begonnenen Roman schreiben.
Der Kofferinhalt war eine Enttäuschung. Vielleicht hatte Mutter einige Papiere beiseitegeschafft, sicher ist sicher.
Eine Werbung für Sapporo-Bier war drinnen, Tagebücher einer Freundin der Mutter, Bücher ...
Davon handelt „Der nasse Tod“ AUCH. Vor allem aber handelt das Buch davon, wie das Buch entstanden ist; und während dieses Buch davon handelt, wie es entstanden ist, handelt es von einer Theatergruppe, die ein Stück von Ōe aufführen will und Hilfe braucht; und während es von der Theatergruppe erzählt, erzählt es wie so oft vom geistig behinderten Sohn des Nobelpreisträgers, der nicht redet, aber komponiert; und während man Neues über Hikari Ōe erfährt, erfährt man von einem Gedicht, das die Mutter kurz vor ihrem Tod notierte: Was meinte sie damit, dass „Kogii, wie vom Fluss fortgetragen, nicht wieder zurück kommt“?
Kogii war der Spitzname vom kleinen Kenzaburo.
Kogii war auch der Name des Freundes, den der Bub herbeifantasiert hatte.
Geflüchtet
Wie oft bei den Büchern von Ōe wird die Übersetzung aus wirtschaftlichen Gründen jahrelang gut überlegt. In
Japan erschien „Der nasse Tod“ schon 2009.
Als Untertitel hat der Verlag S. Fischer jetzt auf den Umschlag schreiben lassen: „Roman über meinen Vater“. Das ist, wie ausgeführt, leicht übertrieben.
Fast nebensächlich wird verraten, dass der Vater damals, als er ertrank, mit dem Boot flüchten wollte: Angeblich war er an einem Aufstand beteiligt gewesen, und man hatte ihn verfolgt.
Der Sohn dachte, Vater starb, als er den Damm ausbesserte.
Kein Kaninchen
Kenzaburo Ōe kann zaubern, aber meistens wird nicht er es sein, der das Kaninchen aus dem Hut holt. Das muss jeder, der sich auf ein Buch von ihm einlässt, selbst tun, und das ist mitunter ganz schön anstrengend.
Aber sonst gibt es keine Magie zu spüren.
Dem japanischen Nobelpreisträger ist wichtiger, wie er sich im Kampf mit den Romanfiguren schlägt. Wichtiger als die Zahl seiner Leser.
Es hat vielleicht etwas mit beginnendem Irrsinn zu tun, Ōe hier keine bessere KURIER-Wertung zu geben als zeitgleic Lerchbaum, Goermans, Kaindlstorfer.
Aber von deren aktuellen Büchern hat man mehr bzw. mindestens ebenso viel; und diesmal war kein Kaninchen im Zauberhut.
Kenzaburo Ōe: „Der nasse Tod“
Übersetzt von
Nora Bierich.
Verlag
S.Fischer.
432 Seiten.
25,70 Euro.
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern