Was das heutige Europa von Clemens Metternich lernen kann
Von Anita Staudacher
Er steht in den Geschichtsbüchern im Schatten des schildernden Herrschers Napoleon und kommt als Staatskanzler, der mit Polizeistaat, Spitzelwesen und Zensur Reformen verhinderte, schlecht weg. Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773–1859) war aber weit mehr als ein konservativer Ideologe.
Er war über Jahrzehnte der wichtigste diplomatische Stratege in Europa, oder wie es Napoleon ausdrückte: „Metternich ist der einzige Staatsmann, den es in Europa seit der Revolution gegeben hat.“ Der „Kutscher Europas“ schaffte nichts weniger als ein Gleichgewicht der Mächte.
Ein Gleichgewicht, das nach dem Sieg über Napoleon und dem „Wiener Kongress“, dessen Beschlüsse als frühe Vorläufer der heutigen EU gelten, den Kontinent fast 40 Jahre lang vor größeren Kriegen bewahrte.
Große Staatskunst
Biograf Muamer Bećirović zeichnet anhand bisher unveröffentlichter Dokumente ein rundes – wenn auch sehr unkritisches – Bild über den Diplomaten Metternich: wie er tickte, wie er taktierte, wie es ihm gelang, unterschiedlichste Interessen und Charaktere auszutarieren. Ganz große Staatskunst, die anschaulich zu Papier gebracht wird. Der Autor schließt damit eine Lücke in einer Reihe an Metternich-Biografien, die diese faszinierende Persönlichkeit in allen Aspekten – nicht zuletzt sein spannendes Liebesleben – neu beleuchten. Erst im Vorjahr, zum 250. Geburtstag, erschien mit dem „Kleinen Metternich“ (Autor: Stefan Müller) eine sehr leserliche, journalistisch klug aufbereitete Mini-Biografie.
Lehrbuch für Diplomaten
Das Buch von Bećirović geht mehr in die Tiefe und könnte angehenden Diplomaten als Lehrbuch dienen. Was zeichnet die Staatskunst Metternichs aus? „Die Tatsache, dass das europäische Gleichgewicht wesentlich von seinem Zentrum abhängt“, sagt Bećirović. „Metternich ist es gelungen, den konfliktfreudigen Osten und den Westen gleichzeitig zu zähmen, indem er das Gewicht der Mitte Europas immer auf die Seite der Waage warf, die letztlich als Gleichgewicht diente und den Frieden auf dem Kontinent sicherte.“ Heute sei man in Europa in einer ähnlichen Situation wie damals Österreich, wo es darum gehe, West und Ost aufeinander zuzubewegen. Gelinge das nicht, könnte es in einer Tragödie enden.