Ukrainisches Tagebuch: Der Krieg wächst im Menschen wie ein Tumor
Von Peter Pisa
Während des Schreibens denkt Andrej Kurkow, das ist alles Fantasie, das ist alles unmöglich.
„Danach erst merke ich, wie viel Realismus in den Geschichten steckt.“
Beispiel: Eine arme Frau verkauft täglich ihre Muttermilch (und rührt für ihr Baby Pulver an), damit ein Politiker darin badet und besonders schön bleibt ... eine Kurkow’sche Fantasie aus dem Roman „Der Milchmann in der Nacht“.
Aber schaut man Putin und Berlusconi in die Gesichter ...
Humor verloren
Andrej Kurkow (Foto oben) ist Ukrainer. Er erklärt die Ukraine. Sogar sein kürzlich erschienener erster Kriminalroman „Samson und Nadjeschda“ – Diogenes Verlag, 24,70 Euro – ist nicht bloß grotesk und spannend.
Ihn mit Gogol zu vergleichen, macht Sinn. Ihn einen „ukrainischen Murakami“ zu nennen, geht daneben.
Putin, so der 61-Jährige, zerstöre nicht allein die Ukraine, sondern auch Russland und die russische Sprache: Kinder wollen in der Schule nicht mehr Russisch als Zweitsprache lernen, denn die Russen haben ihre Väter / ihre Großväter / ihre Brüder umgebracht.
Er befürchtet, der Krieg werde erst enden, wenn es Putin nicht mehr gibt.
Sein „Tagebuch einer Invasion“ ist kein rasch angefertigtes Notizbuch, die Texte sind in Form gebracht und umfassen die Zeit von der Jahreswende bis Juli 2022.
Hier ist ein ganz anderer Schriftsteller am Werk. „Ich habe meinen Humor verloren“, sagt er. Sogar vorsichtige Ironie fehlt.
Kurkow gibt seit März täglich Telefoninterviews. Sein Tagebuch fasst viele Journalistenfragen zusammen – auch die, seiner Meinung nach, dümmste Frage ist vertreten:
„Sind Sie bereit, für die Ukraine zu sterben?“
„Selbstverständlich.“
Die häufigste Frage, oft von Südamerikanern: Ob die Ukraine ein antisemitischer Staat sei. Ein russenfeindlicher. Da hat er leichtes Spiel: Mit 73 Prozent wurde ein russischsprachiger Jude zum Präsidenten gewählt. Und es ist keine nationalistische Partei im Parlament.
„Können Sie das von Ihrem Land auch sagen?“
Für Tierfutter
Andrej Kurkow informiert über seine Heimat: Die Mindestrente liege bei 80 Euro.
Er erzählt: Der Zoo in Mykolajiw musste nach Artilleriefeuer geschlossen werden. Trotzdem kauften Tausende Tickets, damit Tierfutter besorgt werden konnte.
Er schäumt: Die Besitzer des Fußballvereins „Dynamo Kiew“ flohen am dritten Kriegstag in Mercedes und Maybach mit nicht deklarierten 18 Millionen Dollar Bargeld Richtung Ungarn.
Er lobt: Die Redenschreiber von Selenskyj produzieren derart Mitreißendes, dass die Russen sie zu gern ausschalten würden.
Der Krieg ist längst in Kurkow, wie ein Tumor. Er wird weitere Tagebücher schreiben müssen. Und warten. Das vermutlich aus China stammende Sprichwort wird jetzt oft in der Ukraine gehört: Wenn du lange am Flussufer sitzt, wird früher oder später der Leichnam deines Gegners flussabwärts an dir vorbeischwimmen.
Andrej
Kurkow: „Tagebuch einer
Invasion“
Übersetzt von Rebecca DeWald.
Haymon Verlag.
343 Seiten.
20 Euro
KURIER-Wertung: ****