Die 2.000 unerwarteten Seiten der Gräfin
Von Peter Pisa
Setzt sich ein Mann mit seiner betagten Mutter nach einem Sonnenbad in ein Café und sagt laut: „Jetzt müssen wir entschweißen.“
Ein hässliches Wort, live von der Adria.
Und jetzt kommt der feine Unterschied, jetzt kommt Literatur: Ein Ehepaar – es gibt Spannungen – sie schmollt, er wird sie ... „entschmollen“...
Entschmollen ist ein schönes Wort. Es hat Witz (und riecht nicht), Die Schriftstellerin Mechtilde Lichnowsky, die es erdacht hatte, bewies Mut. So etwas kann ja schiefgehen. Zwischen entschweißen und entschmollen ist der Weg schmal.
Hochadel
Es gab eine Zeit, als man über Gräfin Lichnowsky gesagt hat, sie sei die bedeutendste lebende Schriftstellerin deutscher Sprache. Aus der hochadeligen Familie von und zu Arco-Zinneberg stammte sie und war Urururenkelin von Maria Theresia.
Komponiert hat sie, gezeichnet, gemalt ...
Aber nach ihrem Tod in London 1958 geriet sie in völlige Vergessenheit.
Auch Eva Menasse hat sie zunächst nicht gekannt, aber sich eingehend mit Mechtilde Lichnowsky beschäftigt.
Ihr Vorwort ist gelungenes Einpeitschen, man ist ungeduldig, was kommt: fast 2.000 Seiten in vier Bänden, fast drei Kilo schwer. Eine schöne Sprache kommt – etwas ergraut und schön: Die kreative Gräfin verehrte den Sprachkritiker (und Besserwisser) Karl Kraus und wurde von Rainer Maria Rilke verehrt – da ist also etwas zu entdecken.
Etwas Unerwartetes, Originelles, Überraschendes – „tagein, tagaus, jahrein, jahraus, lebenein, lebenaus“.
Egal, ob Lichnowsky von ihrer Ägyptenreise berichtete, ob sie einen Roman über ihre Kindheit schrieb oder über einen „Hausmeisterwutanprall“, der zu überstehen war.
Als ihr erster Ehemann starb, ein Fürst, und sie ins Nichts fiel (wie sie schreibt), nahm sie den „lebenslänglichen Vertrag“ mit ihrem Dackel Lurch noch ernster: Dieses volle Verlassenkönnen auf den Partner führte zum allerbesten ihrer Roman „An der Leine“ (aus 1930, Band 3 in „Werke“), in dem sie vom Hund zum Menschen kommt.
Hier findet sich ihre Philosophie, wonach „über uns der Leinenzwang dauernd verhängt ist.“ Gesundheit, Schicksal, Milieu der Geburt, Beruf – das alles sind die Leinen in Gottes Hand. Außerdem sind wir an der Leine des Bankiers, des Staates, des Kellners ... und ganz besonders des Friseurs.
Mechtilde Lichnowsky: „Werke“
Herausgegeben von
Günter Häntzschel und
Hiltrud Häntzschel.
Mit einem Essay von Eva Menasse.
Zsolnay Verlag.
Vier Bände im Schuber.
872 Seiten.
61,70 Euro
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern