Jugendliche geben freiwillig kostenlos digitale Nachhilfe
Von Heinz Wagner
In der letzten Reihe des leeren Klassenzimmers – wie alle für Oberstufen seit Anfang November - in der privaten Handelsakademie Franklinstraße haben sich Julia und Lisa aus der 3 cK mit einem Laptop platziert. Neben dem digitalen Arbeitsgerät haben sie Ausdrucke mathematischer Aufgaben rund um den pythagoräischen Lehrsatz gelegt. Wenig später stoßen zwei weitere Schülerinnen der Vienna Business School (VBS) Floridsdorf zu diesem nachmittäglichen Termin dazu: Jehane und Zeynep, beide schon im Maturajahr. Jede von ihnen baut ihren Laptop in der ersten Reihe auf. Dazwischen liegen die gleichen Mathe-Zettel.
Die vier Schülerinnen werden wenig später in die Rolle von Lehrenden einsteigen, genauer gesagt Nachhilfelehrerinnen für Mittelschüler_innen aus Pottenbrunn. Seit einigen Wochen geben Jugendliche der Wiener Handelsakademie digitale Nachhilfe für Schülerinnen und Schüler aus diesem Stadtteil der niederösterreichischen Landeshauptstadt St. Pölten. „Meistens wollen oder brauchen sie Mathe, manchmal haben wir aber auch schon Englisch-Nachhilfe gegeben“, so Lisa und Julia zum Kinder-KURIER, der eine solche nachmittägliche Einheit begleiten darf.
Hilfe durch (Nach-)Fragen
Etliche Beispiele von Dreiecken bzw. geometrischen Figuren, wo fehlende Angaben über die berühmte Formel a² + b² = c² ausgerechnet werden können, stehen auf den Zetteln, die sich die HAK-Schülerinnen zur Vorbereitung ausgedruckt hatten. Andreea, Julian und Çeren aus Pottenbrunn - und ihre Lehrerin Eva - sind am anderen Ende der Video-Stunde. Der Reihe nach lösen die niederösterreichischen Schüler_innen – jeweils aus ihren eigenen Wohnungen - abwechselnd die Beispiele.
Geduldig unterstützt und mit der einen oder anderen kleinen Hilfestellung aus dem Floridsdorfer Klassenzimmer. Wobei die vier Nachhilfelehrerinnen einander in den eingangs genannten Zweier-Teams bei der Hilfestellung abwechseln. Gleich ist ihnen, dass sie vor allem versuchen, über Fragen, ihre Nachhilfe-Schüler_innen geduldig und schrittweise auf den Lösungsweg hinführen wollen.
Handzeichnung hilft weiter
Manchmal führen - wie praktisch alle aus den gefühlten Tausenden Video-Konferenzen seit neun Monaten kennen - Ton- oder Bild-Ausfälle zu Verständnis-Schwierigkeiten. Das größere Verständnisproblem ist allerdings, wie und wozu die Formel brauchbar ist, dass in rechtwinkeligen Dreiecken die Summe der Quadrate über den beiden Katheten immer jener des Quadrats über der Hypotenuse entspricht.
Nach und nach tauchen Beispiele auf, wo es offensichtlich wird, dass dieser berühmte Satz des antiken Philosophen und Mathematikers Pythagoras nicht nur dazu da ist, Schüler_innen irgendwas herumrechnen zu lassen. Bei einem der komplizierteren Beispiele in dieser nachmittäglichen Aufgaben-Sammlung hilft Zeynep den Pottenbrunner Mittelschüler_innen mit einer Skizze, die sie schnell aber exakt auf einem Blatt Papier anfertigt und deren Dreiecks-Teile sie unterschiedlich einfärbt. Die hält sie in die Kamera – und schon taucht der Weg zur Lösung auf der Suche nach der gefragten Länge aus einem Objekt zweier rechtwinkeliger Dreiecke und eines Rechtecks auf.
Erfahrung durch jüngere Geschwister
Zeynep kann auf Erfahrungen aufbauen: „Meine kleine Schwester braucht ständig Hilfe bei Hausübungen, da bin ich das schon gewohnt.“ Für Jehane ist der jüngere Bruder jener der sie fit für die Rolle als Nachhilfelehrerin macht.
So wie die vier Schülerinnen die Nachhilfe in ihrer Freizeit, freiwillig und kostenlos geben, so ist auch die Unterstützung durch den Lehrer, der das Projekt auf die Beine gestellt hat, eine unbezahlte gute Tat. (Thomas Benesch, der vor geraumer Zeit praktisch durch alle Medien gereicht wurde, weil er schon 16 akademische Titel hatte, – mittlerweile hat er schon zwei weitere Studien abgeschlossen).
Leichter, wenn's Jugendliche erklären
Am Ende der nicht ganz 1 ½- Stunden – diesmal kürzer, weil die Mittelschüler_innen aus Pottenbrunn mit den zu bewältigenden Aufgaben schneller fertig waren – darf sie der Kinder-KURIER noch fragen, wie sie diese digitale Nachhilfe finden. „Es ist besser, weil uns Jugendliche die Sachen erklären“, „es ist auch mehr Zeit als in einer Schulstunde, wo eine Lehrerin eine ganze Klasse hat“, „so können wir viel öfter auch nachfragen“ – lauten die Antworten von den Nachhilfeschüler_innen aus der 4. Klasse der Mittelschule Pottenbrunn.
Direktorin Susanne Neuner betrachtet die seit September laufende Online-Nachhilfe, die Schüler_innen der VBS-Floridsdorf geben als Pilotprojekt, die sie gern ausgeweitet sähe – auf Zusammenarbeit mit Unterstufen-Schulen aus der Umgebung, deren Schüler_innen vielleicht ihren Bildungsweg in der VBS Floridsdorf fortsetzen.
Wasserprojekt
Apropos freiwillig und unbezahlt: Nach der Nachhilfestunde stellen die eingangs genannten Lisa und Julia so „nebenbei“ dem Kinder-KURIER noch ein umfangreiches Projekt zum Thema Wasser vor, das sie für einen Bewerb in politischer Bildung eingereicht haben. Der genannte Lehrer lobt die fundierten, übersichtlichen sechs Info-Tafeln, die das Duo angefertigt hat. Und die beiden Schülerinnen erläutern, dass „es sich beim Wassermangel um ein ganz wichtiges Thema mit vielen auch politischen Auswirkungen handelt. Wir haben viel dazu online recherchiert und dann unter anderem eine Mindmap erstellt mit den Folgen. Aber auch aus den Unmengen an Informationen die wichtigsten herausgesucht und sich zu informativen Plakaten zusammengestellt.“