Christian Seilers gehen: Stephansdom revisited
Von Christian Seiler
Ich gehe über den Stephansplatz, und ich meine, was ich sage: Ich überquere den Platz mit langen, regelmäßigen Schritten, so als ob ich irgendwo auf der Donauinsel unterwegs wäre, und das ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil es eigentlich nicht möglich ist. Der Stephansplatz ist ein Platz, über den man sich schiebt, den man durchpflügt, dessen Überquerung mehr Kampf ist als irgendetwas sonst, jedenfalls sicher kein Vergnügen. Als Innenstadt-Ranger musste ich mich diesem Kampf gegen die Menge manchmal stellen. Wie begeistert ich darüber war, ließ sich offenbar an meinem Gesicht ablesen, jedenfalls stürzten sich die als Mozart verkleideten Kartenverkäufer nicht auf mich, wenn sie meiner ansichtig wurden, sondern gingen mir aus dem Weg wie einem missmutigen, alten Köter, der ein bisschen unberechenbar aussieht.
Aber seit Wien nicht mehr von Touristen überflutet wird, hat sich diese Situation verändert. Der Stephansplatz ist mehr oder weniger frei. Die Belagerung durch die Fiaker ist harmlos, auch der unvermeidliche Duft nach Pferdepisse hängt nicht ganz so penetrant in der Luft wie sonst. Zum ersten Mal seit Jahren betrachte ich den Platz nicht als Minenfeld, sondern erfasse etwas anderes: seine klare Ästhetik. Seine Schönheit.
Ich umrunde den Dom. Betrachte in aller Ruhe den Thermophor auf zwei Füßen, den Erwin Wurm in eine Nische des Vorplatzes gestellt hat. Das Kunstwerk heißt „Big Mutter“, ein schlampiger Titel, über den ich nicht weiter nachdenken möchte. Auf Bänken vor dem Südturm füttert eine Stadtstreicherin mit einer alten Semmel die Tauben. Auf riesigen Bannern, die an der Außenseite des Kirchenschiffs befestigt sind, wirbt die Diözese um Spenden für die Riesenorgel. Ich erinnere mich an Gerhard Roths grandiose Reportage über den Stephansdom, die in seinem Buch „Eine Reise ins Innere von Wien“ enthalten ist und mehr Geheimnisse enthüllt, als ich hier jemals vermutet hätte.
Ich gehe am Südturm und am Zahnweh-Christus vorbei, werfe einen Blick in das Labyrinth des Parkhauses Ecke Schulerstraße und steuere den Nordturm an, dessen misslungene Vollendung wie immer, wenn etwas nicht nach Plan geklappt hat, dem Teufel in die Schuhe geschoben wird. Hier befindet sich auf Straßenniveau das Adlertor, das den Eingang in das Frauenschiff markiert – und vor sehr langer Zeit eine ganz besondere Anziehungskraft auf Menschen ausübte, die der weltlichen Rechtsprechung entflohen und das Asyl der Kirche suchten. Im linken Pfeiler des Adlertors befindet sich nämlich der sogenannte Asylring, ein gusseisernes Überbleibsel einer alten Seil- oder Umlenkrolle. Wer diesen Ring zu fassen bekam, genoss automatisch das Asyl der Kirche. Weil dieses Recht auf Herzog Leopold den Glorreichen (1176 bis 1230) zurückging, wurde der Asylring auch „Leo“ genannt – eine Bezeichnung, die es bis in die Gegenwart geschafft hat, jedenfalls solange Kinder Fangen gespielt haben.
Ich nehme den Griff in die Hand. Kühl und geschmeidig fühlt er sich an. Ich kehre zurück, wenn der Platz wieder voll ist.