Christian Seilers Gehen: Hinein ins Wiener Gemüseparadies
Von Christian Seiler
Also streife ich wieder einmal durch Simmering. Bewundere die Siedlung „Trautes Heim“ auf der Simmeringer Haide, gehe auf einer Straße namens „Unter der Kirche“ an imposanten Gemeindebauten vorbei, ein Name, der mir angesichts der auf einer Anhöhe sitzenden Altsimmeringer Pfarrkirche durchaus sinnfällig scheint. Bedenke auch die benachbarte Fassade der rumänisch-orthodoxen Pfarrkirche, sozusagen die Taschenbuchausgabe einer ausgewachsenen Gold-und-Zwiebelturm-Kathedrale, mit ökumenischer Aufmerksamkeit, bevor ich den Entschluss fasse, nicht wie sonst der Simmeringer Hauptstraße nach Osten zu folgen, sondern die Kaiserebersdorfer Straße zu nehmen, die direkt ins Gemüseparadies Wiens führt.
Schnell bin ich in einer Welt, deren dörfliche Vergangenheit noch nicht ganz wegredigiert ist. Einstöckige Häuser erinnern an burgenländische oder Weinviertler Straßendörfer, viel Grün, große Gärten, der Seeschlachtpark auf dem Areal einer ehemaligen Gärtnerei. Ich nehme die Einladung eines Wegweisers an, der mich ins „Erholungsgebiet Simmering“ schickt, das hinter einer pyramidalen Wohnhausanlage beginnt und sich schmal und elegant ausstreckt.
Ich gehe ein bisschen eckig und unbeholfen, weil der Boden gatschig ist und ich meine Schuhe gerade frisch geputzt hatte. Ein vierschrötiger Hundebesitzer in Gummistiefeln kommt mir entgegen, squatsch, squatsch, squatsch, und schaut mich interessiert an: Was ist das für eine Marie Antoinette, die da zwischen den Lacken herumtanzt? Er bleibt allen Ernstes stehen, um zuzuschauen, wie ich das Donaudelta im Miniaturformat meistere, das ich jetzt durchqueren muss. Eh: Keine Chance auf saubere Schuhe. Squatsch, squatsch, squatsch, jetzt ich. Na eben, sagt der Typ und pfeift seinem Hund.
Das erstaunlichste Schloss Wiens
Vor mir befindet sich jetzt das vielleicht erstaunlichste Schloss Wiens, breitschultrig und düster, zwar durchaus harmonisch in seiner ursprünglichen Form, aber durch viel zu kleine Fensteröffnungen unzureichend rhythmisiert. Allein dieser Name: „Schloss Neugebäude“. Von Kaiser Maximilian II. in Auftrag gegeben, wurde die Anlage im 16. Jahrhundert dort errichtet, wo während der ersten Wiener Türkenbelagerung die Zeltburg der Türken gestanden sein soll. Schloss Neugebäude war als reines Lustschloss, als manieristisches Repräsentationsbauwerk des Kaisers geplant. Nach Maximilians Tod – und noch bevor das Schloss in seiner ganzen Pracht wirklich fertiggestellt war – wurden Teile der Anlage zu anderer Verwendung abgebaut. Im 18. Jahrhundert übernahm das Militär, nutzte das Schloss als Munitionsdepot, ließ die Gärten verkommen.
Bis zum Ersten Weltkrieg wurde Pulver und Salpeter erzeugt, dann zog eine Fabrik für Nutzfahrzeuge ein, die während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter beschäftigte. In den Oberen Garten ist inzwischen die Feuerhalle Simmering eingezogen. Den Unteren Garten, früher ein Barockjuwel, hat die Stadt Wien in einen Spielplatz verwandelt, durch den ich jetzt nachdenklich squatsche: Echte Geschichte gibt es hier im Taschenformat.