Im Rausch der Worte
Von Bernhard Praschl
Wer Dublin zu Fuß durchquert, behaupten die Iren, wird im Laufe des Tages ganz sicher einem Bekannten begegnen. Mag sein. Von der Fläche kleiner als Graz, mutet die 500.000-Einwohner-Stadt wirklich kompakt an. Ob Touristen diesen „Dorfcharakter“ ebenso empfinden? Mag auch sein. Seit die irische Metropole zum Trendziel avanciert ist, kann es schon vorkommen, dass man in der Flanierzone Grafton Street auf jemanden trifft, den man erst vor Kurzem die Mariahilfer Straße raufhecheln sah. Das passiert womöglich auf dem Weg ins nächste Pub. Bevor nämlich Musikgruppen wie U2, Thin Lizzy und auch The Dubliners mittels Gesang, Gitarren oder Flötenklängen intensive Aufklärungsarbeit zu Dublin betrieben haben, waren die Attraktion der Inselhauptstadt vorwiegend Bier und Whiskey. Dabei ist es erst 42 Jahre her, dass das erste irische Beisl auf dem europäischen Festland eröffnet wurde – in Frankfurt am Main. Das erste stilecht gezapfte schwarze Gold, sorry, Guinness in Wien folgte dann ein wenig später.
Länger schon können Irland und seine Metropole auf die Anziehungskraft der Worte verweisen, die von hier aus die Welt bereichern. Von Jonathan Swift, Autor von „Gullivers Reisen“, über Satiriker und Politiker George Bernard Shaw bis zu Samuel „Warten auf Godot“ Beckett und den geistreichen wie streitbaren Dichter, Dandy und Dramatiker Oscar Wilde – sie alle stammen aus Dublin. Ebenso James Joyce, prominentester Sohn der Stadt der bunten Türportale. 92 Jahre ist es her, dass sein Jahrhundertwerk „Ulysses“ erschienen ist. Und 60 Jahre, seit zum Gedenken an die darin beschriebene Tour de force des fiktiven Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom durch die lokalen Straßen, Gassen, Parks und Pubs der Bloomsday gefeiert wird. Bald, am Jahrestag des am 16. Juni 1904 spielenden Romans, ist es wieder soweit. Dann werden erneut Tausende Literaturfreunde die einschlägigen Hotspots der Hauptstadt heimsuchen: vom Martello-Tower in der Bucht Sandycove, in dem James Joyce einst acht verbürgte Tage gewohnt hat, über das Pub Davy Byrne’s, wo zur Feier des Tages Gorgonzolabrot und Burgunderwein auf der Karte stehen, bis zum Custom House, dem klassizistischen Regierungsgebäude am nördlichen Ufer des Flusses Liffey. Wer dieses Stadtfest noch nicht erlebt hat, kann davon ausgehen, dass es eine Riesenhetz sein wird. Hardcore-Fans halten das 18 Stunden durch, so lange eben, wie Joyce die Handlung seines Helden auf gut tausend Seiten ausgebreitet hat. Das Beste daran: Um in das Tohuwabohu rund um den Bloomsday einzutauchen, ist es nicht erforderlich, auch nur eine einzige Zeile von „Ulysses“ gelesen zu haben.
Gilt manchen Besuchern der irischen Hauptstadt als Höhepunkt eines Dublin-Trips: Eine Visite der Whiskey-Brauerei Jameson.
Es hilft natürlich, sich vor diesem Städtetrip etwas intensiver als sonst auf diese Reise einzustimmen. Denn schon im Normalzustand ist Dublin eine Open-Air-Show mit mehr als nur einem rätselhaften Eyecatcher. Das üppige Dekolleté einer gewissen Molly Malone, am unteren Ende der Grafton Street, steht das etwa für den Busen der Natur, an dem James Joyce einst „joy“, mehr noch: eine geradezu überiridische Freude verspürt hat? Weit gefehlt: Die ausladende Skulptur, die 1987 zur 1.000-Jahr-Feier Dublins aufgestellt wurde, bezieht sich auf die Legende von einer umtriebigen Fischhändlerin, die am Marktplatz ihre Reize feilbot, weil sie die Früchte des Meeres allein nicht ernähren konnten. Weil die Iren einen Hang zum Drama haben, musste Miss Malone schon jung hinscheiden.
In den Annalen der Stadt aber ist sie nach wie vor lebendig. Und wie. Man kennt sie auch unter der lockeren Bezeichnung „Dish with the fish“ („scharfe Braut mit dem Fisch“) oder „Dolly with the trolley“ („die Puppe mit dem Karren“). Vorbild für Leopold Blooms Molly ist sie jedenfalls nicht. Diese schuf James Joyce nach seiner Lebenspartnerin Nora. Und ohne die gäbe es weder Leopold Bloom noch den Bloomsday. Auch zum 16. Juni 1904 gibt es eine Anekdote. Genau das, so die Joyce-Biografin Brenda Maddox, ist der Tag, an dem der hagere Dichter mit seiner warmherzigen Nora mehr als nur Händchen hielt.
Histörchen, die man im Mulligan’s oder der Pub-Institution The Brazen Head nach ein paar Pints Guinness aufschnappt, könnten ähnlich geartet sein. Dabei wird in Joyce’ an Homers „Odyssee“ angelehntes Meisterwerk mehr Wein als Bier getrunken. Andererseits befindet man sich auf diesem Breitengrad relativ hoch oben in Europa und trotzdem wachsen an der Küste und in Parks Palmen wie an der Riviera. Ja, bei der Bedienungsanleitung zu Dublin muss man zwischen den Zeilen lesen.
Selbst wenn der „keltische Tiger“ nach der Finanzkrise 2008 einen Nasenstüber verpasst bekam, ist man heute glücklicherweise von den Krisenszenarien vergangener Jahrhunderte weit entfernt. Als Folge der bitteren Not nach Missernten war die Einwohnerzahl Irlands schon einmal dramatisch von acht Millionen im Jahr 1840 auf nur noch viereinhalb Millionen im Jahr 1920 gesunken. Viele Iren hatten damals das Weite gesucht und gingen nach England, oder zogen quer durch Europa oder bis in die Vereinigten Staaten und nach Australien. So wurde zugleich der Boden des globalen Erfolgs typisch irischer Flüssigkeiten wie Guinness und Jameson aufbereitet. Dass viele Junge nach wie vor ihr Glück im Exil suchen, hat also nicht erst seit James Joyce Tradition.
Der angehende Autor hatte sich nur Monate nach ersten Liebesbezeugungen mit seiner Freundin Nora an Bord einer Fähre nach England eingefunden. Nach Jahren des Exils in Triest, Pula, Zürich und Paris sollte er nur noch sporadisch in seine Heimat zurückkehren. „Die Iren erinnern sich gut daran, dass Schriftsteller wie Beckett und Joyce das Land verlassen haben und niemals wiedergekommen sind, und wollen die Wahrscheinlichkeit solcher Verluste in Zukunft vielleicht etwas verringern“, schreibt Christoph Ransmayr, der selbst Jahre in Irland verbracht hat, in seinem Erzählband „Geständnisse eines Touristen“. Für Ransmayr ist das der Grund, warum „die Zuneigung und Achtung, die man in Irland selbst am Stammtisch – der hier übrigens grundsätzlich kein Tisch, sondern eine Theke ist – Schriftstellern gegenüber zeigt, tatsächlich bemerkenswert ist“.
Mehr noch. Irland ist ein Paradies für alle Lebenskünstler. Nur in einer sing- und tanzfreudigen Stadt wie Dublin ist es möglich, dass eine Stratocaster für alle sichtbar an einer Ziegelwand klebt (die von Rory Gallagher), die lebensgroße Statue eines anderen Rockers in der Fußgängerzone steht (Phil Lynott), und ein entlang der Grafton Street gedrehter Low-Budget-Film über einen Straßensänger sogar den Oscar gewinnt („Once“ mit Glen Hansard).
Natürlich, Touristenattraktion Nummer 1 bleibt der Bloomsday. Der erste wurde im Pariser Exil zelebriert, noch im ganz privaten Rahmen, aber schon sehr intensiv. Joyce soll damals den völlig betrunkenen Beckett in einer Gasthaustoilette vergessen haben ...
Wobei der Schriftsteller nicht annahm, dass er so lange im Gedächtnis bleiben werde. Einmal notierte er illusionslos: „Heute, 16. Juni 1924, zwanzig Jahre später. Wird sich jemand an das Datum erinnern? “ Längst wissen wir es. Noch lange.
HINKOMMEN
Nach knapp drei Stunden Flugzeit von Wien mIt air lingus oder germanwings ab € 90 (einfach).
ÜBERNACHTEN
Harrington Hall: Georgianisches Stadthotel im Zentrum beim Park St. Stephen Green, ab € 150
www.harringtonhall.com
The Clarence: Luxus mit VIP-Bonus, nicht nur, weil die Rockgruppe U2 Mitbesitzer ist, ab € 220
www.theclarence.ie
ANSCHAUEN
Heuer feiert Dublin ein Vierteljahrhundert irische Brauereigeschichte. Das Guinness-Museum feiert mit, auf sieben Etagen. Cheers!
www.guinness-storehouse.com
Man lernt nie aus. Im Trinity College, Irlands ältester Uni, kann man sowohl auf dem herrlichen Rasen ruhen als auch keltische Geschichte studieren.
www.tcd.ie
ESSEN UND TRINKEN
Bestes Bier und würzigsten Whiskey gibt es an jeder Ecke. Sehr empfehlenswert ist etwa das Roastbeef Sandwich in der Old Jameson Destillery.
www.jamesonwhiskey.com
AUSFLÜGE
Howth Dorf mit netten Fischrestaurants nordöstlich von Dublin. Mit der Stadtbahn DART dauert es ab der Connolly Station 24 Min.; retour empfiehlt sich der Bus 31 B mit Panoramablick vom Oberdeck.
Sandycove 25 Min. südlich von Dublin stehen an einer Landzunge der zum Joyce-Museum umfunktionierte Martello-Tower und die abenteuerliche Badestelle Forty Foot Hole. Hier tauchte der Autor zumindest seine Zehen in die Fluten des Atlantik.