Willkommen im Industriepalast
Eines ist unbestritten: Die Pandemie hat gerade für die Architekten von Bürogebäuden die Karten neu gemischt. Und bis dato erst einen Teil davon auch wieder aufgedeckt. Kurz gesagt: Wer heute ein Office plant, muss einen Blick in die sprichwörtliche Glaskugel werfen, um Entscheidungen treffen zu können.
Wird das Homeoffice bleiben? Wenn ja, wie intensiv? Werden flexible Arbeitsplätze zum Trend oder bestehen die Post-Pandemie-Mitarbeiter nach wie vor auf eigene Schreibtische? Es sind viele Fragen, die sich stellen aber noch unzureichend geklärt werden können. Aber: Büros werden dennoch gebraucht!
Glaskugel-Blick für den Roche-Campus
Und die Architekten von Christ & Gantenbein erwecken den Eindruck, die Zeichen der Zeit besonders gut lesen zu können. Jedenfalls präsentieren sie interessante Ableitungen für die nahe Zukunft. Das beweist das soeben fertiggestellte dritte Gebäude des Roche-Campus im deutschen Grenzach-Wyhlen, nahe der Schweizer Grenze.
Offiziell läuft das 10.000 Quadratmeter große Objekt unter dem Begriff „Multifunctional Workspace Building“. Es soll also einen möglichst breiten Nutzungsmix ermöglichen. Konkret wollten die Auftraggeber Versammlungen von mehr als 500 Personen genauso möglich machen, wie konzentrierte Einzelarbeit oder Gruppenzusammenarbeiten. Eine zusätzliche Erschwernis – Stichwort Social Distancing.
Roche-Campus als Grund, um zu kommen
Emanuel Christ, Mitbegründer von Christ & Gantenbein fasst die Sache so zusammen: „Wir wollten einen Arbeitsraum mit Persönlichkeit, Vielfalt, Freiheit und Flexibilität schaffen, um den Roche-Mitarbeitern ein positives Erlebnis zu bieten und die lokale Gemeinschaft zum gemeinsamen Austausch einzuladen.“
Das sei in einer Zeit, in der mehr Menschen als je zuvor von zu Hause aus arbeiten, besonders wichtig. Ziel sei es gewesen, ein Gebäude zu schaffen, dass den Mitarbeitern „ganz einfach einen Grund gibt, zur Arbeit zu kommen.“
Wir wollten einen Arbeitsraum mit Persönlichkeit, Vielfalt, Freiheit und Flexibilität schaffen, um den Roche-Mitarbeitern ein positives Erlebnis zu bieten.
Emanuel Christ, Mitbegründer von Christ & Gantenbein
Aber wie kann das in Zeiten gelingen, in denen Trends von Phänomen kaum zu unterscheiden sind und Vorlieben von einigen gern mit großen Visionen verwechselt werden? Christ & Gantenbein geht es offenbar unter anderem darum, von Anfang an Menschen Bilder über ihren zukünftigen Arbeitsplatz in den Kopf zu zeichnen.
Lieber Palast als Büro
Also beschrieb das Büro den 50 Meter breiten Bau vom ersten Tag an als „Industriepalast“ mit einer Fassade, die „Würde und Repräsentation vermittel“. „Wir wollen einen Raum für das bieten, was nicht aus der Ferne erledigt werden kann“, so Emanuel Christ, Mitbegründer des Studios. Und man geht wohl lieber in einen Palast als bloß ins Office.
Schlichte Optik
Aber kommen wir zur Optik des neuen Roche-Campus. Die Hauptfassaden sind recht traditionell gestaltet. Mit horizontalen Fenstern, die durch schmale Pfosten und dicke Aluminiumbänder unterteilt sind. Die Ecken scheinen jedoch weggeschnitten worden zu sein, so dass nur die Verglasung zurückbleibt. Die gleiche Ordnung findet sich auch im Inneren, wo die vorgefertigten Betondeckenelemente in jedem Stockwerk Kassettendecken bilden.
Die spannenden Facetten lassen sich erst erfassen, wenn man den Roche-Campus betritt. Hier fällt sogleich auf, dass kaum Innenwände vorhanden sind. Offenheit ist das offensichtliche Credo. Im ersten Stock schafft ein Raum mit doppelter Höhe ein Auditorium mit 550 Plätzen. Doch der Raum kann auf gar verschiedene Weise genutzt werden, da man ihn in drei einzelne Säle unterteilen kann. So sind intimere Veranstaltungen möglich, große Events oder gar verschiedene Versammlungen gleichzeitig.
Warum Wände nicht wichtig sind
Die beiden oberen Etagen bieten eine Vielzahl von Arbeitsmöglichkeiten, darunter verstellbare Schreibtische, Einzelarbeitsplätze, Ruhezonen und Konferenzräume.
Aber kommen wir zurück zu den spärlich verwendeten Innenwänden. Die dadurch generierten Effekte liegen freilich auf der Hand: Mehr Platz, um einander nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken. Einfachere Belüftungsmöglichkeiten. Mehr Flexibilität bei der Inneneinrichtung.
Interior als wichtiger Mitspieler
„Da es in dem Gebäude nur wenige Wände gibt, spielt das Mobiliar eine wichtigere Rolle bei der Definition der verschiedenen Räume“, sagen die Architekten selbst. Und haben sich mit der Schweizer Marke INCHfurniture zusammengetan, um eine Reihe von maßgefertigten Möbeln zu entwickeln.
Das Ergebnis: In der Lobby des Erdgeschosses werden Pflanzeninseln von geschwungenen Einbauten begleitet. Ein Empfangstresen, eine Kaffeebar und eine Ausgabeküche wurden hier clever integriert. Verkleidet hat man sämtliche Fronten mit eloxiertem und strukturiertem Blech. Kleiner Hinweis: Das ist leicht zu reinigen – und zu desinfizieren.
Zehn flexible Möbel-Module
INCHfurniture hat zudem zehn verschiedene, mobile Elemente entworfen, um das Layout der einzelnen Großräume flexibel zu strukturieren. Dazu gehören ein schwebender Raum namens Sky Box, ein kombinierter Sitz- und Pflanzplatz namens Forest Circle, verglaste Besprechungsräume, die als Meeting Hubs bekannt sind und eine Reihe treppenartiger Sitze, die als Agility Space bezeichnet werden.
Die anderen sechs sind: Creative Lab, Flexible Workstation, Community Table, Desert Area, Residential Area und Kitchenette. Auf den Punkt gebracht kann man sagen: Einige Elemente sind so konzipiert, dass sie die Privatsphäre schützen. Andere wurden so entwickelt, dass sie Offenheit und Interaktion fördern. Alle aber eint, dass sie flexibel sind.
Wie stolz Emanuel Christ auf die ganze Sache ist, lässt sich wohl aus dieser Wortmeldung eindeutig herauslesen: „Unser Multifunctional Workspace Building hat vorweggenommen, was für heute und morgen wichtig ist“, sagt er und betont, dass das Projekt als Vorbild für das Büro der Zukunft dienen würde.
Eigene Erfindung als Maß aller Dinge?
„Etwas Unkonventionelles zu schaffen, etwas anderes zu entwickeln und unsere eigene Interpretation einer möglichen Zusammenarbeit in und nach Pandemiezeiten zu erfinden.“ Er fügt hinzu: „Dies war nur durch das unglaublich ehrgeizige Ziel aller Beteiligten möglich.“
Inwiefern das auch wirklich gelungen ist, wird sich wohl erst in den nächsten Jahren weisen. Aktuell jedenfalls hat man bei so viel Selbstbewusstsein fast das Gefühl, die Architekten von Christ & Gantenbein hätten nicht nur sprichwörtlich einen Blick in die ominöse Glaskugel geworfen …
Text: Johannes Stühlinger Bilder: Walter Mair
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