Chronik/Wien

Ausweg aus dem harten Leben auf der Straße: Ein Betroffener erzählt

Nervös sucht Herr J. nach seinen Zigaretten, spielt mit dem Feuerzeug, überlegt. Es gibt Geschichten, die erzählt man bereitwillig. Etwa über kleine Erfolge im Beruf oder familiäres Glück. Und dann gibt es Geschichten, die keiner gerne über sich preisgibt. Dinge, für die man sich ein bisschen schämt. Und die doch gesagt gehören, um anderen Menschen, denen es ähnlich geht, Mut zu machen.

Herr J. sitzt in einer kleinen Wohnung am Stadtrand Wiens, die Wände sind noch kahl, die Einrichtung ist bescheiden: ein roter Kühlschrank, eine aufblasbare Matratze, ein Fernseher, eine Kochplatte, zwei Sessel.

Depression und Jobverlust

Er zieht an seiner Zigarette und beginnt zu erzählen: Darüber, wie es ist, an Depressionen zu erkranken, den Job zu verlieren, auf der Straße zu landen. „Das war das Härteste. Ich weiß nicht, wie andere das jahrelang aushalten“, sagt er. Zwei Wochen habe er nur von Wasser gelebt, zum Dösen setzte er sich in Autobusse, dann wurde ihm noch sein Rucksack samt seinen Papieren gestohlen.

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Obdachlosigkeit: In Österreich leben rund 20.000 Obdachlose, davon zwei Drittel Männer.

„Housing First“ gibt es bei Neunerhaus seit elf Jahren. 572 Menschen fanden dadurch wieder eine Bleibe, davon 48 Prozent Frauen. 259 Wohnungen gibt es in Wien. Der durchschnittliche Mietpreis beträgt 7,33 Euro pro Quadratmeter.

92 Prozent beträgt die Mietstabilität: Das heißt, 92 Prozent der Menschen leben nach drei Jahren noch immer in ihrer Wohnung.

Unterstützung: Wer die Arbeit von Neunerhaus unterstützen möchte, findet alle Infos hier: neunerhaus.at/spenden

 

Jahrelang kam er in Notquartieren unter, geriet aber, wie er sagt, in „einen Teufelskreis“: Seine Ex-Partnerin untersagte ihm den Kontakt zu den Kindern, die Depressionen wurden schlimmer. „Ich bin kein Trottel, aber ich hab’ es einfach nicht mehr geschafft, Termine einzuhalten“, sagt der 53-Jährige. Da er nicht beim AMS erschien, verlor er jegliches Einkommen. Bis ihm Betreuer in den Wohnheimen, Sozialberater, Psychologen und Ärzte halfen, wieder in Richtung eines geregelten Lebens zu gehen.

Endlich wieder ein eigenes Zuhause

Der wichtigste Schritt: Seit zwei Monaten hat Herr J. wieder ein richtiges Zuhause – eine eigene Mietwohnung. Möglich wurde das über die Sozialeinrichtung Neunerhaus, die im Rahmen des Programms „Housing First“ seit elf Jahren leistbare Wohnungen an Obdachlose vermittelt. Wenn gewünscht, erhalten die Bewohner weiter Unterstützung von Sozialarbeitern. Die Erfahrung zeigt: Die Menschen sind zuverlässige Mieter, mehr als 92 Prozent bleiben in diesen Wohnungen. Das hofft auch Herr J: „Ich fühle mich wohl, ich bin angekommen, das ist urleiwand“, sagt er und lacht.

Jetzt fühle er sich endlich stark genug, die zentralen Themen anzugehen: „Ich habe Schulden und möchte meine Finanzen regeln. Vor allem möchte ich wieder Kontakt zu meinen Kindern, wieder ganz gesund werden und noch ein paar Jahre als Koch arbeiten.“

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Seine Geschichte gleicht denen vielen anderer, die ihre Wohnung verloren haben, weiß Neunerhaus-Geschäftsführerin Elisabeth Hammer. Wieder ein Zuhause zu haben sei der zentrale Ausgangspunkt, um sein Leben sortieren zu können – das ist auch die Philosophie hinter „Housing First“.

Falsche Vorstellungen von Obdachlosen

Oft habe man von Obdachlosigkeit falsche Vorstellungen: „Viele denken nur an Menschen, die auf einer Parkbank schlafen“, sagt Hammer. „Auch aus einer Angst heraus, denn dann kann man sich sagen: Mit mir hat das nichts zu tun.“ Doch nach Krankheit, Jobverlust oder einer Trennung könne es passieren, dass plötzlich nicht genug Geld für eine neue Wohnung vorhanden sei – zumal in Zeiten der Teuerung. „Viele kommen zu uns und sagen: Ich hätte nie gedacht, dass mir das passiert“, erzählt Hammer.

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Ob sich die aktuelle Teuerung schon in den Zahlen der Obdachlosen widerspiegelt? Während der Pandemie war man mit Delogierungen zurückhaltender, manch einer habe auch noch ein paar Ersparnisse gehabt, erklärt Hammer. Etwas zeitverzögert werde sich die Krise in der Zahl der Obdachlosen aber jedenfalls niederschlagen, fürchtet sie: „Die Frage ist nur, wann und wie stark.“

"Man darf nie aufgeben"

Im Lauf seiner Erzählung ist Herr J. aufgetaut, er wirkt erleichtert und betont mehrmals, wie dankbar er für all die Hilfe ist. Er möchte nun selbst helfen, überlegt, sich in der Beratung Obdachloser zu engagieren. Sein wichtigster Rat? „Man darf nie aufgeben. Auch wenn man sich schämt – man sollte Hilfe suchen. Sie ist da und sie ist sehr gut. Es kann nur besser werden.“

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