Neutralität: Ex-Nato-Chef warnt Österreich vor "Selbstgefälligkeit"
Der frühere NATO-Generalsekretär George Robertson hat Österreich vor "Selbstgefälligkeit" im Zusammenhang mit der Neutralität gewarnt.
"Es ist nicht gerade angenehm, wenn man sich darauf verlassen muss, dass einen die Neutralität oder andere Völker beschützen werden", sagte er im APA-Interview in Wien unter Verweis auf neutrale Staaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg, aber auch die Ukraine. Er wünsche sich Österreich als NATO-Mitglied, weil das für beide Seiten sinnvoll wäre.
"Österreich wäre Mehrwert für das, was die NATO tut"
"Österreich ist ein entwickelter demokratischer Staat und wäre ein Mehrwert für das, was die NATO tut", sagte Robertson auf eine entsprechende Frage. Als "großer moderner europäischer Staat" wäre Österreich zu höheren Verteidigungsausgaben fähig und würde "die Abschreckungsfähigkeit der NATO ergänzen". Auch habe es nicht eine Randlage wie etwa Montenegro oder Mazedonien, sondern liege "im Herzen Europas", zählte der britische Labour-Politiker die Vorteile einer NATO-Integration Österreichs auf.
Die Neutralität schütze Österreich nicht, und zwar weder militärisch noch vor anderen Herausforderungen wie etwa Migrationswellen. "Im modernen Europa gibt es so etwas wie Neutralität nicht mehr. Wladimir Putin hat den letzten Zweifel daran beseitigt", betonte der frühere britische Verteidigungsminister. "Die Neutralität hat den Ländern im Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht geholfen. Die Neutralität und das Budapester Memorandum haben die Ukraine nicht vor dem bewahrt, was im Februar 2022 passiert ist."
Robertson nannte das Budapester Memorandum - ein von Russland im Jahr 1994 unterzeichnetes Dokument, das der Ukraine im Gegenzug für die Abgabe ihrer Atomwaffen die territoriale Integrität zusicherte - in einem Atemzug mit der Beistandsklausel nach Artikel 42 des EU-Vertrags. "Das ist eine Verpflichtung, aber sie ist nicht annähernd so stark wie Artikel 5 des NATO-Abkommens", sagte Robertson.
Österreich im Herzen Europas
Österreich liege im Herzen Europas und sei "nicht Montenegro oder Mazedonien", sagte Robertson auf die Frage nach dem Mehrwert der Alpenrepublik für das Bündnis. "Österreich ist ein großer moderner europäischer Staat, der zu höheren Verteidigungsausgaben fähig ist und die Abschreckungsfähigkeit der NATO ergänzen würde", machte der langjährige Labour-Politiker klar. Er gehe zwar nicht so weit wie andere, Österreich Trittbrettfahren vorzuwerfen. "Aber es hat schon was für sich, wenn man sagt, dass Länder wie Österreich davon profitieren, dass die NATO eine Billion Dollar für Verteidigung ausgibt und man weiß, dass sie damit eine Milliarde Menschen beschützt."
"Ich würde Österreich irgendwann gerne als Teil der Allianz sehen, weil das im Sinne des gesunden Menschenverstandes ist", sagte Robertson, der von 1999 bis 2003 an der Spitze des Bündnisses stand. Damals habe er vier Jahre lang versucht, die nordischen Staaten Schweden und Finnland vom Beitritt zu überzeugen. "Wladimir Putin hat es in vier Wochen geschafft", fügte er mit Blick auf den dortigen Stimmungsumschwung nach Beginn der russischen Aggression scherzhaft hinzu.
Befragt zum russischen Aggressionskrieg sagte Robertson, dass es "unmöglich" sei, Vorhersagen zu machen. Dies sei nämlich so, als hätte man dem britischen Premierminister Winston Churchill im Jahr 1941 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefragt. "Er konnte ja nicht sagen: Im Jahr 1945 wird die Atombombe erfunden, und so wird dann der Krieg beendet." Wenn die Ukraine weiterhin die benötigte Ausrüstung und Munition aus dem Westen bekomme, "gibt es keinen Grund, warum sie nicht siegen sollten". Während nämlich Putin bei allen seinen Zielen kläglich gescheitert sei und nun "einen Verteidigungskrieg nach Art des Ersten Weltkriegs im Donbass" kämpfe, sei die Widerstandskraft, Zähigkeit und Innovationsfähigkeit der Ukrainer "absolut hervorragend". Die US-Militärhilfe für die Ukraine sei deshalb so wichtig, weil die Vereinigten Staaten anders als die Europäer entsprechende Rüstungsbestände hätten. In absoluten Zahlen habe Europa aber schon bisher mehr geleistet als die USA.
Robertson hatte als NATO-Generalsekretär den gemeinsamen Rat des Bündnisses mit Russland ins Leben gerufen, und in diesem Zusammenhang auch gute Vereinbarungen mit Kreml-Chef Putin gefunden. "Dieser Mann stand so nahe bei mir wie sie jetzt und sagte, dass die Ukraine ein souveräner und unabhängiger Staat ist", erinnerte sich Robertson an ein NATO-Russland-Treffen im Jahr 2002. "Jetzt sagt er, dass die Ukraine kein unabhängiger Staat ist und zerstört werden muss", so Robertson. "Ja, ich bin überrascht, niedergeschlagen und fühle mich betrogen", sagte er über den Kreml-Chef.
Aufhorchen ließ das Mitglied des britischen Oberhauses mit der Aussage, die im Jahr 2008 verkündete NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine sei ein "Fehler" gewesen. Die Ukraine war damals nämlich weder militärisch noch politisch bereit für einen NATO-Beitritt, weswegen das Versprechen unrealistisch gewesen sei und auch eine Verletzung der für andere Staaten geschaffenen Beitrittsverfahren. Außerdem habe das "unnötigerweise die Alarmglocken im Kreml schrillen lassen", sagte Robertson.
Kein russischer Angriff auf NATO-Territorium
"Langfristig wäre die Ukraine NATO-Mitglied geworden und sie wird auch NATO-Mitglied werden. Aber es war nicht klug, das zu diesem Zeitpunkt zu machen", widersprach er dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, demzufolge die Ukraine damals in die NATO hätte gelassen werden müssen, weil Russland schwächer gewesen sei als heute.
Einen russischen Angriff auf NATO-Territorium sieht Robertson nicht, weil Kreml-Chef Putin "nicht einmal in verrücktestem Zustand seine Militärführung davon überzeugen könnte, diese Linie zu überschreiten". Bei einem Treffen mit früheren russischen Militärchefs habe er sich nämlich davon überzeugen können, dass diese alle "sehr konservativ" und "sehr patriotisch" seien. "Was für sie zählt, ist der Schutz des Mutterlandes. Und sie alle wissen, dass das Mutterland in Gefahr ist, wenn es eine Konfrontation mit den Ländern des Artikel 5 gibt", betonte er.
Angesprochen auf die jüngsten Relativierung des Bündnisartikels durch den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump sagte Robertson, dass die baltischen Staaten allesamt das von diesem angeführte NATO-Ziel für Verteidigungsausgaben erfüllen. Außerdem gelte Artikel 5 nicht nur für die USA, sondern auch für alle anderen NATO-Staaten, darunter etwa auch die Atommacht Frankreich.
Eher in Gefahr seien Staaten wie die Republik Moldau, Aserbaidschan, Kasachstan oder auch die zentralasiatischen Staaten, sagte Robertson. Gegenüber Europa würde Putin wohl eher auf Cyberangriffe, Einmischung in Wahlen oder gezielte Tötungen setzen. "Wenn er in der Ukraine gewinnt, wird er wohl die Grauzone für Angriffe nutzen, und keinen militärischen Angriff unternehmen, den er verlieren würde."
Robertson gehörte ab 1997 der ersten Labour-Regierung unter Tony Blair an, ehe er zwei Jahre später als NATO-Generalsekretär nach Brüssel wechselte. "Großes Bedauern" äußerte er auf eine entsprechende Frage über den Brexit und sagte selbstkritisch, dass das pro-europäische Lager in der Kampagne vor dem Brexit-Referendum "nicht genug erklärt hat, wie wichtig die EU für unser tägliches Leben ist". Er sei überzeugt, dass Großbritannien irgendwann wieder der EU beitreten werde, "aber ich glaube nicht, dass das zu meinen Lebzeiten sein wird", sagte der 78-Jährige.
"Nur über meine Leiche" will der Schotte auch seine Heimat aus dem Vereinigten Königreich ziehen lassen, wie er sagte. Mit Blick auf den erwarteten Sieg seiner Labour Party bei den nächsten Unterhauswahlen sagte er, dass Großbritannien unter Labour-Chef Keir Starmer "wieder auf die Weltbühne zurückkehren" und etwa auf Symbolpolitik wie die Asylverfahren in Ruanda verzichten werde. "Glaubt irgendwer, dass das die Boote im Ärmelkanal aufhalten wird", fragte Robertson rhetorisch. Starmer werde sich auch um eine "engere Beziehung" des Ex-Mitglieds mit der EU bemühen, sagte das Mitglied des House of Lords.