Lehren aus dem Fall Leon: Kampf um Gerechtigkeit hat seinen Preis
Von Christian Willim
Kurz nach 17 Uhr brechen am Donnerstagabend in den Gängen am Landesgericht Innsbruck alle Dämme. Noch bevor der wegen Mordes an seinem Sohn Leon (6) angeklagte Florian A. am dritten Verhandlungstag ein letztes Mal im Schwurgerichtssaal vorgeführt wird, sickert der Wahrspruch der Geschworenen durch: Nicht schuldig.
Die Frau des 39-Jährigen fällt ihrem Bruder um den Hals. Bei vielen der Angehörigen der Familie, die den gesamten Prozess mitverfolgt haben, fließen Tränen. Als das Urteil der Laienrichter dann offiziell verkündet wird, brandet Applaus im Saal auf. Und auch Florian A. und seine Frau fallen sich in die Arme.
Auf Messers Schneide
Dass der Vater des seit Geburt an behinderten und im Sommer 2022 in der Kitzbühler Ache ertrunkenen Leon das Gericht als freier Mann verlässt, war alles andere als fix:
"Wenn unser Mandat nicht die Mittel gehabt hätte, das Ganze mit Sachverständigen noch einmal aufzurollen, dann wäre die Sache womöglich anders ausgegangen", sagt Albert Heiss, einer der beiden Strafverteidiger unmittelbar nach dem Urteil. Und der zweite, Mahtias Kapferer spricht gar von einer "Drei-Klassen-Justiz".
Die Frage, was es kostet, sich mit besten Mitteln zu verteidigen, hat diesen Fall bereits durch das Ermittlungsverfahren und letztlich den Prozess begleitet.
Zwei Strafverteidiger, etliche privat beauftragte Gutachter - wie etwa einen IT-Experten, einen Notarzt oder einen Gerichtsmediziner - sowie eine PR-Agentur, die für die Medienarbeit rund um diesen Fall zuständig war, wurden aufgeboten.
"Die müssen eine Immobilie verkaufen"
"Wer finanziert das Ganze?", hatte Kapferer am ersten Prozesstag mögliche Gedanken der Geschworenen vorweggenommen und erklärt: "Es ist die gesamt Familie A. Die müssen eine Immobilie verkaufen."
Wie ruinös ein langes Ermittlungs- und Gerichtsverfahren sein kann, selbst wenn es am Ende vielleicht mit einem Freispruch endet, wird meist rund um clamorose Fälle diskutiert. Dann wenn Top-Manager oder (Ex-)Spitzenpolitiker - etwa ein Karl-Heinz Grasser, ein Heinz-Christian Strache oder ein Christoph Chorherr auf der Anklagebank sitzen.
Für Strafverteidiger Mathias Kapferer zeigt der Fall Leon auf, dass nicht jeder Bürger, der unter Strafverdacht gerät, die selben Chancen hat.
Besondere Kanäle zu Verantwortlichen
„Die oberste Klasse ist das, was im Pilnacek-Bericht aufgekommen ist: Die Kombination aus, ich habe genug Geld, aber ich habe auch noch besondere Kanäle zu den Verantwortlichen hin und kann so zu Verfahrenseinstellungen kommen", so der Tiroler Rechtsanwalt, der diesbezüglich überzeugt ist: "Da ist ein Filz drinnen, der grausig ist.“
Die zweite Klasse seien Menschen wie Florian A. und seine Angehörigen, wo dann zum Beispiel "die ganze Familie zusammenlegt, um eine g'scheite Verteidigung auf die Füße zu stellen", so der erfahrene Verteidiger.
Und dann gebe es eben noch jene Beschuldigten, die auf einen Verfahrenshelfer angewiesen sind. "Also das, was man früher - und das trifft es ganz gut - Armenverteidiger genannt hat", sagt Kapferer, der diese Ebene innerhalb des Justizsystems schon lange in Schieflage sieht.
Nicht vom Fach
"Ich kritisiere seit Jahren, dass da Leute zu Verfahrenshelfern bestellt werden, die mit Strafrecht wenig bis gar nichts zu tun haben. Die sind alleine vom Ablauf her gar nicht für so etwas aufgestellt.“
Und Kapferer ortet ein weiteres gravierendes Manko: "Das, was wir in unserem Fall jetzt an Möglichkeiten hatten und unserer Meinung nach den Freispruch gebracht hat, dass man auf Sachverständige usw. zurückgreifen kann, hat der Verfahrenshelfer nicht."
Im Fall Leon endete der Prozess mit einem Freispruch, der am Freitag rechtskräftig wurde. Die Staatsanwaltschaft legt keine Rechtsmittel mehr gegen die Entscheidung ein. Der 39-Jährige ist damit ein freier Mann und offiziell unschuldig.
Kaum Entschädigung für Kosten
Freispruch hin oder her: Auf den für sie entstandenen Kosten wird Familie A. großteils sitzen bleiben. Zwar hat der Nationalrat erst vor kurzem eine Novelle der Bundesregierung beschlossen, mit der die Kostenersätze nach Freisprüchen – rückwirkend mit 1.1.2024 – erhöht wurden.
„Aber wir sind weit weg von einem Entschädigungsbetrag, wo ich sage, der Schaden, den mir der Staat zugefügt hat, der wird mir ersetzt“, sagt Kapferer.
30.000 Euro beträgt die Pauschale für einen Freispruch vor einem Geschworenengericht, die vom Richter bei einem langen Ermittlungsverfahren bzw. Prozess auf 45.000 Euro erhöht werden kann. Für den Strafverteidiger ist aber noch unklar, wie die Zeitspanne vor Rechtswirksamkeit der neuen Regelung in dem Fall gewertet wird.
Im Februar 2023 in U-Haft genommen
Immerhin wurde sein Mandant bereits im Februar 2023 in U-Haft genommen, wo er 17 Monate verbracht hat. Für jeden dieser zu Unrecht hinter Gittern verbrachten über 500 Tage stehen dem 39-Jährigen bis zu 50 Euro pro Tag zu.
„Die Haftentschädigung ist ja ein Witz“, kann der Strafverteidiger dazu nur sagen und führt vor Augen: „Dieser Mensch hat eineinhalb Jahre nichts verdient und muss jetzt wieder bei Null anfangen.“
Dass die Republik in solchen Fällen Ansprüche auf Verdienstentgang akzeptiert, ist indes keinesfalls gewiss. Das zeigt der Fall eines 64-Jährigen, der unter Betrugsverdacht gestanden hat und vom bekannten Anwalt Michael Dohr vertreten wurde.
20 Monate in U-Haft
Dessen Mandant hatte mehrere Kindergärten in Wien betrieben und war verdächtigt worden, Förderbetrug begangen zu haben. Er saß sogar 20 Monate in Untersuchungshaft, ehe er freigesprochen wurde. Verdienstentgang wurde ihm letztlich gar keiner zuerkannt.
Bei einer Bandbreite von 20 bis 50 Euro pro Tag in Haft, bot die Republik nur 24,5 Euro pro Hafttag „für die Quasi-Vernichtung seiner Existenz“, wie Dohr kritisierte. Das Angebot der Finanzprokoratur - in Summe 14.250 Euro - nannte der Anwalt "ein gutes Beispiel, wie die Republik Unschuldige nicht nur nicht rehabilitiert, sondern sogar mit Füßen tritt".