Chronik/Oberösterreich

Dem Neuen eine Chance geben

Ich wollte vor ein paar Tagen Brennnesseln ausreißen, da hab’ ich eine fette lila Raupe entdeckt. Sie hat vor sich hin geschmatzt und dabei so witzig ausgesehen, dass ich laut auflachen musste. Das hat sie von ihrer Mampferei anscheinend kurz abgehalten und sie hat mich gefragt: „Wer bist du?“ Na geh, bitte, da gibt’s doch tatsächlich jemanden, der mich nicht kennt? „Der Seppy bin ich“, hab’ ich ziemlich entrüstet geantwortet. „Und du tust mir auch nix?“, hat die Raupe wieder gefragt und weiter gemampft. Wieso sollte ich ausgerechnet einer Raupe etwas antun? Ich bin ja froh, dass es sie überhaupt noch gibt, schließlich wird eines Tages ein Schmetterling daraus, und bunte Schmetterlinge schau’ ich mir besonders gern an. Und so haben wir Freundschaft geschlossen, die dicke lila Raupe und ich, der Seppy.

Wenn er sich verpuppt oder verkriecht

Wir haben uns recht gut unterhalten, ich hab’ ihr lustige Geschichten aus dem Puppentheater erzählt und sie hat aus ihrem aufregenden Leben berichtet. Wie sie als kleine Raupe aus einem winzigen Ei geschlüpft ist und dann ständig gefressen und dabei so viel zugenommen hat, das sie sich immer und immer wieder häuten musste, weil sie nimmer in ihre Haut rein gepasst hat. Ja, und jetzt ist sie fast dreißigtausendmal größer als zu Beginn, und sie ist kurz davor, sich zu verpuppen. Dazu baut sie sich eine schützende, gemütliche Hülle, da drin wachsen dann zusammengerollt ihre Flügel und sie verwandelt sich langsam in einen Schmetterling. Schön und gut und interessant, aber irgendwie geht’s mir immer so. Kaum lern’ ich jemanden kennen und wir verstehen uns gut, vertschüsst der sich wieder, verpuppt oder verkriecht sich oder was auch immer. Wollt ihr wissen, was die dicke lila Raupe dazu gesagt hat? „Wenn was Altes vergeht, entsteht meist was wunderbares Neues. Du musst der Zukunft immer eine Chance geben.“

Autorin Christa Koinig ist künstlerische Leiterin des Linzer Puppentheaters