Wie die Wahlkarte das Jahr 2016 prägte
Von Thomas Trescher
Die Wahlkarte begegnete uns am 18. Februar zum ersten Mal als böses Vorzeichen. „Staatsanwaltschaft Innsbruck untersucht Bludenzer Wahlkartenaffäre“ meldete da die Austria Presse Agentur. Wegen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlkarten musste die Bürgermeisterwahl in Bludenz wiederholt werden. Interessiert hat sich damals noch niemand dafür, Vorarlberg ist ja eigentlich gar nicht mehr so wirklich Österreich.
Erinnern Sie sich noch an Khol und Hundstorfer?
Im Nachhinein klingt jetzt vieles lustig, zum Beispiel dieser Satz aus dem April: „Wien (APA) -Wahlkarten sind bei dieser Präsidentenwahl ein Renner“. Es waren nach 2010 erst die zweiten Präsidentschaftswahlen, bei denen Wahlkarten zum Einsatz kamen. Für die erste Runde der Wahl wurden 641.975 Wahlkarten ausgestellt. Auf dem Stimmzettel standen damals noch ein während des gesamten Wahlkampfs völlig genervt wirkender Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und ein fast rührend optimistischer Andreas Khol (ÖVP). Genauso wie der damals noch glücklich verheiratete (oder zumindest noch verheiratete) Richard Lugner und Irmgard Griss, die seitdem immer wieder mit irgendwelchen Projekten und Plattformen durch die Medien irrlichtert.
Die eigentliche politische Sensation blieb unangefochten: Für die Stichwahl qualifizierten sich Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen, die Regierungskandidaten wurden – näher an Richard Lugner denn am Sieger des ersten Wahlgangs Norbert Hofer – Vierter und Fünfter. Ein Grüner in der Hofburg? Ein Freiheitlicher gar? Es waren spannende Zeiten nach einem Schock für die Regierung, der den Kanzler den Job kostete. Christian Kern löste Werner Faymann ab, kurz bevor die Österreicher noch einmal zur Urne schritten.
Gegen das System
Und noch einmal, und einmal fast, aber das wäre jetzt zu weit vorgegriffen. Die Wahlkarte jedenfalls sorgte für einen Rekord, fast 900.000 Stück wurden für die Stichwahl beantragt, rund 14 Prozent der 6,3 Million Wahlberechtigten bestellten eine. Grund genug für FPÖ-Generalsekretär Herbert Kickl, bereits vorab eine „Wahlkarten-Verschwörung“ zu wittern. Der gewaltige Anstieg bei den Wahlkarten werfe einmal mehr die Frage auf, „ob Helfershelfer des gegenwärtigen Politsystems hier vielleicht die Gelegenheit nutzen könnten, dem Wählerwillen zugunsten des Systemrepräsentanten Van der Bellen 'nachzuhelfen'“. Dass der angebliche Systemrepräsentant gegen den doch recht gut ins System integrierten Dritten Nationalpräsidenten antrat, verschwieg Kickl; die Wahlkarten schienen sich zunächst trotzdem gegen seinen Kandidaten verschworen zu haben.
Am Wahlsonntag des 22. Mai lautete um 14:14 Uhr die erste Alarmmeldung der APA zwar: „Hofer dürfte mit 52 Prozent voran liegen“ und die Zweite um 14:17 Uhr: „Der FPÖ-Kandidat liegt laut einer ersten Hochrechnung der ARGE Wahlen mit ziemlicher Sicherheit uneinholbar voran.“, aber dann sollte doch alles anders kommen. Es dauerte noch mehr als 24 Stunden, bis die Wahlkarten alle ausgezählt waren und sie das Ergebnis noch drehten. Auf ORF2 liefen die „Weißblauen Geschichten“ und in den Verlagshäusern brachen die Server zusammen, kurz bevor der Innenminister verkündete, dass die APA irrte: Uneinholbar vorne war am Ende und nach Auszählung der Wahlkarten Alexander Van der Bellen. Der erste Grüne in der Hofburg.
Der VfGH und die "erziehungsdikatorische Maßnahme"
Doch dann das nächste böse Omen: Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs schaltet sich in die schwelende Debatte um die Wahlkarte ein, vorerst noch ohne dazu gezwungen zu werden: Er hält es für "demokratiepolitisch bedenklich", die Wahlkarten erst einen Tag später auszuzählen, sagt er am Tag nach der Wahl. Nicht einmal eineinhalb Monate später lässt er die Wahl unter anderem deshalb aufheben, weil in manchen Sprengeln die Wahlkarten einen Tag zu früh ausgezählt wurden.
Es war ein Lehrmonat in Sachen „Diskrepanz zwischen Verfassung und Realverfassung“ von der Anfechtung der FPÖ bis zur Aufhebung der Wahl am 1. Juli des Jahres. Wir lernten verfassungsjuristische Details aus der Wahlordnung von der Richterbank und über die österreichische Mentalität von den Wahlbeisitzern aus dem Zeugenstand: Ja, wir haben eh gewusst, dass das nicht korrekt ist, was wir da tun, aber wir dachten, es ist wurscht. Nein, gelesen hab ich nicht, was ich da unterschrieben hab, aber ich dachte, es wird schon passen.
Anhand der Wahlkarte wurde die österreichische Schludrigkeit von den strengen Richtern mit den hermelinbesetzten Umhängen abgestraft; sie will richtig empfangen, geschlitzt, sortiert, gemischt, geöffnet und gezählt werden. Nach „Punkt und Beistrich“ laut der Wahlordnung, wie der oberste Verfassungsrichter Gerhart Holzinger bei der Aufhebung betonte. Eine „erziehungsdiktatorische Vorgabe“ sei das, schimpfte der Anwalt und Verfassungsrechtler Alfred Noll.
Aufgehoben und verschoben
Und wie ein trotziges Kind schlug die Schlampigkeit zurück. Die Kuverts, in denen die Wahlkarten für die Wiederholung der Stichwahl versandt wurden, klebten nicht. Tausende Stimmen liefen Gefahr, ungültig zu werden. Österreich blamierte sich zumindest so weit, um als Randnotiz in US-Comedyshows zu landen. Mit dem eingeschobenen Satz: „Und das ist wirklich wahr!“
Am Tag, an dem die Wiener die amtliche Wahlinformation in den Briefkästen hatten, gab der Innenminister bekannt: Die Wahl wird verschoben, weil die Wahlkarten aus den Kuverts flattern. Und es ergab sich ein neues Problem: Keine Druckerei außer dem Unternehmen, das die Kuverts nicht korrekt druckte, konnte die Kuverts in der gesetzlich vorgegebenen Form überhaupt drucken. Damit die Wahl nicht ganz ausfallen muss, kam es zu einer österreichischen Lösung par excellence: Weil es niemand schafft, die sicheren, neuen Wahlkuverts zu drucken, wurde der Passus aus dem Gesetz wieder gestrichen, der diese Kuverts vorsah - es wurden einfach wieder die alten verwendet, die aus datenrechtlichen Gründen abgeschafft wurden und sie wurden unisono für unbedenklich erklärt.
Spätestens da reichte es den Österreichern dann mit dem Ding des Jahres: Bei der Wiederholung der Stichwahl, die letztendlich am 4. Dezember stattfand, wurde sie vom Hauptdarsteller zum Statisten degradiert: Das Ergebnis stand zur großen Überraschung aller schon vor der Auszählung der Wahlkarten fest. Alles lassen wir uns dann auch nicht gefallen.