Für Kinderärzte steht fest: Schulen müssen offen bleiben
Von Ute Brühl
Die Forderung einiger Wissenschafter, dass man aufgrund der Coronainfektionen die Schulen schließen soll, ärgert Reinhold Kerbl: "Da melden sich viele mit begrenzten Kenntnissen zu Wort. So wie ich mich als Mediziner nicht zu Quantenphysik äußere, sollten sich andere Wissenschafter nicht zum Thema Kinder und Corona zu Wort melden." Kerbl ist Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, die am Dienstag eine Pressekonferenz gab. Titel: "Schulen müssen offen bleiben."
Kerbls Kollege Volker Strenger, Kinderinfektiologe der MedUni Graz, hat sich die Studienlage zum Thema Kinder und Corona näher angeschaut und kommt zum Schluss: "Kinder sind keine ,Treiber' der Pandemie. Deshalb sprechen wir uns auch vehement gegen Schulschließungen aus."
Strenger kann seine These mit Zahlen belegen. "Sind Kinder infiziert, stecken sie meist Altersgenossen an, aber nicht die Erwachsenen." Das ist zumindest die Schlussfolgerung einiger Studien. So wurden etwa in Großbritannien eine Million Menschen untersucht. Ergebnis: In Haushalten mit Kindern gab es auch nicht mehr Ansteckungen als in Haushalten ohne Kinder. Zudem zeigen internationale Untersuchungen an Schulen, dass Kinder und Jugendliche nur in Ausnahmefällen andere angesteckt haben, meist kam das Virus über Erwachsene, also Lehrpersonen, Hilfspersonal oder Hauswarte, in die Klassenzimmer - nicht über Schüler.
Dass Schulen keine Corona-Hotspots sind, legen auch die österreichischen Statistiken nahe: In den Schulen sind sieben Prozent der Indexfälle (bekannte Ausgangspunkte einer Infektionskette) in der Gruppe der 10- bis 14-Jährigen, 23 Prozent in der Altersgruppe der 15-18-Jährigen und 70 Prozent. Bei Kindern unter zehn Jahren gibt es in Österreich keinen dokumentierten Fall des Ausgangs einer Infektionskette.
Die Daten machen deutlich: Es haben sich weitaus mehr junge Menschen in den Ferien infiziert als in der Schulzeit. Sobald die Schule beginnt, sinkt der Anteil der infizierten Kinder und Jugendlichen massiv. Warum das so ist, kann Strenger nur vermuten: "Womöglich sind es die Hygieneregeln, die hier konsequenter eingehalten werden."
Kinder haben Recht auf Bildung
Für die Kinderärzte steht daher fest: "Solange nicht erwiesen ist, dass Schulschließungen das Pandemiegeschehen beeinflussen, gibt es keinen Grund, Schulen zu schließen", meint Reinhold Kerbl. Im Gegenteil: "Kinder haben ein Recht auf Entwicklung und auf Bildung. Das hat Österreich im Rahmen der EU-Kinderrechtskonvention auch so ratifiziert."
Bei der Unterrichtsform des "Distance Learning" würden Kinder im Schnitt nämlich nur zwei Stunden am Tag tatsächlich lernen. "Das ist zu wenig. Den Schülerinnen und Schülern fehlt es in Folge an Struktur. Sie sitzen zu viel am Bildschirm, essen zu viel und bewegen sich zu wenig. Das hat Folgen für die Gesundheit - psychisch und physisch. Auch weil die so wichtigen sozialen Kontakte fehlen", meint Kerbl, der schon jetzt eine Zunahme an psychosomatischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen fest stellt.
Hygieneregeln
Bevor Schulen geschlossen würden, müssten erst alle anderen Möglichkeiten genutzt werden: "Auch in Schulen könnte man noch einiges tun. So könnte man etwa für genügend Abstand zwischen Schülern und Lehrern sorgen. Eine Möglichkeit ist ein neu entwickeltes Plexiglasschild, das Lehrer tragen könnten. Dieses schützt vor der Ausbreitung von Aersolen. Die Verständigung ginge dann über ein Mikrofon."
Mikrobiologe sieht es anders
Der Mikrobiologe Michael Wagner teilt die Ansicht der Kinderärzte nicht. "Kinder können sich anstecken und haben auch eine hohe Menge infektiöser Viren im Rachen. Das Einzige, was ein wenig gegen die Virusausbreitung durch Kinder wirkt, ist, dass sie öfter mildere Symptome haben als Erwachsene und deshalb weniger Viren aushusten. Außerdem ist ihr Atemvolumen geringer. Andererseits haben sie mehr Sozialkontakte.“ Allerdings: "Wenn es gleichzeitig zu einer Erkältung kommt mit Husten und Niesen, kann es rasch passieren, dass auch die SARS-CoV-2-Viren weiter vertragen werden."