Virologe Krammer: "Man hat es verabsäumt, sich vorzubereiten"
Österreich "hat es leider versäumt, sich auf den Herbst vorzubereiten", sagt der österreichische Virologe Florian Krammer in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. "Die Durchimpfungsraten sind zu niedrig, wie auch in der Schweiz." Krammer ist Professor für Impfstoff-Forschung an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York.
Im Frühling habe es noch gut ausgesehen: "Alle dachten, inklusive mir, dass die Durchimpfungsraten rauf müssten, und wenn die hoch genug seien, dann sei der Spuk vorbei." Dann seien zwei Dinge passiert: "Erstens tauchte die Delta-Variante auf. Und zweitens hat man zu wenig gemacht, um Leute aktiv zur Impfung zu bewegen. Jetzt sitzt man mit Durchimpfungsraten von 63 oder 64 Prozent in der Gegend rum (Anm.: laut letzten verfügbaren Zahlen vom Samstag sind es in Österreich jetzt knapp 66 Prozent) und ist mit einer Variante konfrontiert, die viel ansteckender ist und eine kürzere Inkubationszeit hat als die früheren Varianten." Und mit dem kälteren Wetter könne sich das Virus "wieder super vermehren. Aber dass es den saisonalen Effekt geben würde, das hat man schon letztes Jahr gesehen."
Krammer betonte, dass generell im deutschsprachigen Raum die Durchimpfungsraten gering sind: "Das sind Länder, die extrem reich sind und einen guten Zugang zu Impfstoffen hatten. Es ist erschreckend."
Zum Lockdown in Österreich sagt Krammer: "Ich bin auch nicht für Lockdowns., ich hätte gerne gehabt, dass man im Sommer Vorbereitungen getroffen hätte, aber wir sind jetzt in einer Situation, wo es brenzlig ist, und da wird man nicht viel anderes machen können."
Man müsse jetzt Maßnahmen treffen: "In Österreich sind in gewissen Regionen die Intensivstationen komplett voll, Triage-Pläne sind aufgestellt worden. Das Personal in den Krankenhäusern ist überlastet. Die Leute sind seit zwei Jahren durchgehend im Einsatz. Das ist eine Notsituation, und da muss man etwas unternehmen."
Deutschland und die Schweiz hätten aber gegenüber Österreich einen Vorteil, erläutert Krammer: "In Österreich sind die Zahlen früher angestiegen. In der Schweiz sieht man jetzt, was im Nachbarland passiert. Vielleicht erschreckt man sich und setzt früher Maßnahmen."
Wenn die Politik schnell handle, könne man das vielleicht abfedern. "Aber wenn die Welle schon da ist, ist es zu spät. Man muss das früh erkennen und schnell reagieren, denn ein Lockdown bringt nicht sofort etwas, die Fallzahlen gehen erst eine oder zwei Wochen später zurück."
Das Schlechteste, was man in einer Pandemie tun könne, sei abzuwarten: "Es ist sogar besser schnell die falschen Maßnahmen zu treffen, als zu warten. Abwarten hilft dem Virus."
Krammer geht in der NZZ auch ausführlich auf die Frage ein, ob man die Wirksamkeit der Impfstoffe überschätzt habe. "Die Impfstoffe zeigten eine sehr gute Wirksamkeit: 95 Prozent gegen symptomatische Infektionen. Das war eine schöne Überraschung. Dass dieser Schutz mit der Zeit etwas heruntergehen würde, war klar. So arbeitet das Immunsystem nun mal."
"Besser wirksam als Influenza-Impfung"
Aber auch Delta habe dafür gesorgt, dass der Impfschutz weniger gut wurde: "Mit den phantastischen Zahlen am Anfang war die Erwartungshaltung hoch. Dabei sollten wir nicht vergessen: Bei der Influenza-Impfung sind wir froh, wenn wir 60 Prozent Effektivität hinkriegen, und die hält auch nur sechs Monate. Ich glaube, dass die Corona-Impfungen um einiges besser sind als die Influenza-Impfung."
Die Booster-Impfungen reduzieren das Risiko, dass Geimpfte das Virus unbemerkt weitergeben können. Krammer: "Das Risiko ist geringer als nach zwei Impfungen. Ist die Wahrscheinlichkeit null? In der Biologie gibt es die Wahrscheinlichkeit Null nicht."
Das Schöne am Booster sei, dass der erhöhte Schutz bereits nach sieben bis zehn Tagen vorhanden sei: "Aber wie gesagt, statt mitten in der Welle jetzt alle Geimpften zu boostern, wäre es viel besser gewesen, man hätte vorher mehr Leute überzeugt, sich überhaupt impfen zu lassen. Jetzt ist es zu spät. Man hätte im Frühjahr und im Sommer im ganzen deutschsprachigen Raum effiziente Impfkampagnen machen sollen."
Was nach dem Booster passiere, wisse man noch nicht genau: "Es könnte sein, das die B-Zell-Antwort, die für die Antikörper zuständig ist, danach auf hohem Niveau stabil bleibt. Dann würden drei Dosen aureichen. Wenn das nicht zutrifft, dann wäre es schlecht. Dann bräuchten wir später vielleicht wieder einen Booster."
Genesene versus Geimpfte: Was ist besser?
Krammer geht auch auf die Diskussion ein, welche Immunantwort besser ist, jene der Geimpften oder Genesenen: "Aus wissenschaftlicher Sicht ist es natürlich klar, dass auch Genesene einen Schutz haben. Aber die Impfung löst bei einem gesunden Erwachsenen eine sehr hohe und homogene Immunantwort aus. Und die natürliche Infektion ist da anders. Da gibt es ein großes Spektrum, was die Stärke der Immunantwort betrifft. Es gibt Leute, die reagieren stark, andere reagieren schwach. Deswegen ist es gut, wenn man sich auch nach durchgemachter Infektion noch impfen lässt. Wenn man sich als Genesener impft, dann kriegt man eine wahnsinnig hohe Immunantwort. Die ist höher als bei nur Geimpften und bleibt auch höher."
Infiziere man sich als bereits Geimpfter, so wirken solche Durchbruchsinfektionen "in etwa wie eine Booster-Impfung, was die Immunantwort betrifft".
In den kommenden Jahren werde SARS-CoV-2 wahrscheinlich ein saisonales Coronavirus werden: "Wer geimpft ist, wird sich irgendwann vermutlich trotzdem infizieren. Weil aber eine Grundimmunität da ist, wird der Verlauf wahrscheinlich mild sein. Aber ohne den Impfschutz bleibt eine Infektion ein grosses Risiko", sagt Krammer in der Neuen Zürcher Zeitung.