Russland-Sanktionen wirken - wenn auch sehr unterschiedlich
Die Sanktionen gegen Russland wirken, aber sehr unterschiedlich je nach Branche, sagt Beata Javorcik, Chefökonomin bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBRD.
So sei die Industrie im Schnitt zwar "nur" um vier Prozent geschrumpft, Branchen, die auf importierte Vorprodukte angewiesen sind, haben aber zehn Prozent verloren. "Das deutet darauf hin, dass Russland einen Teil der importierten Güter nicht ersetzen kann". Außerdem entfalten sie ihre volle Wirkung erst mittelfristig.
Gesamtwirtschaftlich wirken sich die Sanktionen derzeit weniger aus, als zunächst gedacht, die Wirtschaft Russlands dürfte heuer um 5 und kommendes Jahr um 3 Prozent schrumpfen. Aber es wäre auch unrealistisch gewesen, zu glauben, dass Sanktionen kurzfristig die Wirtschaft zum Stillstand bringen.
Zunächst kommt es zu einer inländischen Ersatzproduktion, die mehr Jobs entstehen lässt. "Das federt die Wirkung der Sanktionen ab". Aber "Sanktionen wirken über ein mittelfristig verlangsamtes Produktivitätswachstum", sagt Javorcik. Sie schmälern die Wissensbasis des Landes - bei Personen, beim Kapital und beim Input multinationaler Konzerne.
Wer profitiert?
Profiteure der Lage in Russland sind kurzfristig einerseits zentralasiatische Länder, weil sich der Handel zwischen Russland und China erhöht und sie auch starke Überweisungen ihrer Bürger aus Russland verzeichnen, da der russische Arbeitsmarkt, insbesondere im Bau, vorerst stark ist. Die Flucht hunderttausender Russen vor der Mobilmachung ihres Landes im Ukraine-Krieg hat aber auch in Armenien und Georgien zu einem Wirtschaftsboom geführt. Die Wachstumsraten in beiden Ländern waren im ersten Halbjahr völlig unerwartet zweistellig.
Sehr oft sind IT-Experten mit ihren Firmen übersiedelt, sagte Javorcik im Gespräch mit der APA. Es sei allerdings sehr ungewiss, wie lange die Situation anhält. Das hänge auch von der Entwicklung in Russland ab.
Lage in der Ukraine
Dramatisch schlechter als in Russland ist es in der Ukraine, wo die Wirtschaft heuer um 30 Prozent zurückgehen dürfte. Aber man müsse bedenken, dass im zweiten Quartal des Jahres das Militär auf Flächen aktiv war, auf denen früher 60 Prozent des BIP erwirtschaftet wurden.
Inzwischen seien es zwar "nur" mehr 20 Prozent, aber inzwischen sind 15 Prozent der Bevölkerung im Ausland und weitere 15 Prozent innerhalb des Landes auf der Flucht. Die Zerbombung der Energie-Infrastruktur durch Russland richtet weitere Verwüstungen an.
Die EBRD sei in diesem Kontext einer der größten Geldgeber der Ukraine - 1 Mrd. Euro wurden dem Land zugesagt, von insgesamt 11 Mrd. Euro, die die EBRD heuer vergeben hat. "Wir bemühen uns, dass die Lichter weiter brennen", so Javorcik. Die auf Finanzierungen in Osteuropa und Zentralasien fokussierte europäische Entwicklungsbank EBRD sei schon vor dem Krieg größter institutioneller Investor in der Ukraine gewesen und habe vorwiegend die Privatwirtschaft finanziert. "Wir kennen uns in dem Land aus", so die Ökonomin. "Wir hoffen, dass wir unser Geld zurückbekommen".
Rasche Wiederherstellung der Ukraine
Anfangs habe sich die Diskussion um den langfristigen Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg gedreht, nun sei klar, dass es um eine "rasche Wiederherstellung" gehe, um den Erhalt der Funktionsfähigkeit des Landes. "Wir konzentrieren uns auf das, was heute gebraucht wird", beschreibt es Javorcik. Und dabei könne es nicht nur um Sachwerte gehen - die Menschen seien die Voraussetzung, dass die Ukraine wieder auf die Beine kommt. "Wir wollen dazu beitragen, dass stabile makroökonomische Bedingungen möglich sind. Das Humankapital wird entscheidend für den künftigen Wiederaufbau des Landes und die Vermeidung einer weiteren Flüchtlingswelle wird helfen, dieses zu erhalten".
In den Prognosen der EBRD steht für die Ukraine für 2023 ein Wachstum von acht Prozent. In so einer Krise seien Vorhersagen aber nicht belastbar, betont die Chefökonomin der EBRD. Ein Rückblick auf die Finanzkrise von 2008 zeige, dass die damaligen Schnellschätzungen im Nachhinein gesehen weit daneben lagen und nicht einmal eine klare Tendenz der Fehler zu erkennen sei. Prognosen mit so unsicheren Zahlen wie damals und auch jetzt seien "wie eine Autofahrt im Nebel mit Bremsen, die nur mit Verzögerung arbeiten und wo man nicht weiß, ob die Straße in 50 Metern bergauf oder bergab führt", vergleicht Javorcik.