Regierungsauftrag nicht an Kickl: Nächster ÖVP-Politiker übt Kritik
Nach dem desaströsen Abschneiden der ÖVP bei der Steiermark-Wahl hatte Noch-Landeshauptmann Christopher Drexler schnell einen Schuldigen für seine Wahlniederlage parat: die Bundespolitik.
Konkret kritisierte Drexler, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen nicht FPÖ-Chef Herbert Kickl mit der Bildung einer Regierung beauftragte. "Insofern ein großes Danke nach Wien", meinte Drexler noch am Wahlabend ironisch.
Auch Werner Amon, ÖVP-Bildungslandesrat in der Steiermark, begründete das schlechte Wahlergebnis der Volkspartei mit dem Vorgehen in der Hofburg.
Hahn hätte Kickl gern scheitern sehen
Nun hat auch der scheidende EU-Kommissar Johannes Hahn in einem Interview mit dem ORF-Radio zumindest indirekt Kritik an Bundespräsident Van der Bellen geübt.
Auf die Frage, ob es ein Fehler gewesen sei, Kickl nicht den Auftrag zur Regierungsbildung zu geben, sagte Hahn: "Aus europäischer, internationaler Sicht, hätte ich mir gewünscht, dass der Herr Kickl die Möglichkeit hat, das auszuprobieren, sodass dann aber alle sehen: Es hat nicht funktioniert."
Letztlich gelte es, Europa Folgendes zu signalisieren, so der ÖVP-Politiker: "Ja, die FPÖ ist die Nummer eins nach den Nationalratswahlen, aber sie haben auch nur 28 Prozent und 72 Prozent ticken anders." Doch wolle er dem Bundespräsidenten keine Empfehlung geben, betonte Hahn in dem am Samstag im Ö1-Morgenjournal auszugsweise ausgestrahlten Interview.
Zurückhaltend äußerte sich Hahn, was die Erfolgsaussichten der entstehenden Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und Neos betrifft. "Das hängt jetzt von der Qualität ab, wie die zusammenfinden, was das Programm ist. Ehrlich gesagt, man soll hier jedem eine Chance geben", sagte er auf die Frage, ob diese Koalition fünf Jahre halten könne.
Rechtsruck als "Periode des Umbruchs"
Dass aktuell in vielen EU-Ländern als "weit rechts" eingestufte Parteien erfolgreich seien, führte Hahn auf eine "Periode des ständigen Umbruchs" zurück, die seit vielen Jahren durchlebt werde. "Früher hat es eine Krise gegeben, dann war wieder Ruhe, dann gab es wieder eine Krise. Die Menschen konnten sich davon irgendwie erholen." Jetzt sei eine "gewisse Erschöpftheit" vorhanden. Das führe dazu, dass gerade diese populistischen Strömungen erfolgreich seien, "weil sie mit sehr einfachen Slogans die Dinge beschreiben, sie aber nicht lösen".
EU-kritischen Geistern in Österreich hielt der ÖVP-Politiker entgegen, dass es viele Dinge gebe, die man "nur mit der Kraft der 450 Millionen, der 27 Mitgliedsstaaten erfolgreich angehen" könne. Nachsatz: "Ehrlich gesagt, wo wäre ein Land wie Österreich, und Österreich ist im europäischen Vergleich ein mittelgroßes Land mit neun Millionen Einwohnern, in einer Welt von acht Milliarden?"
Die jüngst von einigen Medien und Politikern angeheizte Diskussion um ein vermeintliches EU-Rauchverbot im Freien konnte Hahn nicht nachvollziehen. Es habe sich ja nur um eine "Empfehlung" gehandelt. Die Zuständigkeit liege eindeutig bei den Mitgliedsstaaten. Allerdings gebe es in der EU viele Tote wegen des "Passivrauchens", argumentierte der abtretende EU-Kommissar. "Daher ist es naheliegend, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie kann ich es vermeiden, dass es so viele Tote gibt aufgrund des Rauchens und auch des Passivrauchens."
Hahn, der am Montag den 67. Geburtstag feiert, scheidet am heutigen Samstag aus seinem Amt als EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung aus. Zuvor war er ab Februar 2010 EU-Kommissar für Regionalpolitik, von November 2014 bis November 2019 hatte er das Ressort für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen übergehabt. "Die größte Niederlage in den 15 Jahren, die ich mitmachen musste", sei der Brexit gewesen. Die Möglichkeit, dass das Vereinigte Königreich wieder in die EU zurückfinde, sieht Hahn "zum jetzigen Zeitpunkt" nicht. "Ich glaube, die Priorität muss einfach darin liegen, dass wir eine vernünftige Form der Zusammenarbeit finden."
Bezüglich eines "Green Deals" müsse die künftige EU-Kommission einen "Goldenen Mittelweg" finden, "damit es zu keinen Abstoßungsreaktionen kommt", forderte der ehemalige Bundesminister für Wissenschaft und Forschung. Der Grüne Übergang sei eine "große Chance", er müsse aber für die Industrie, aber auch für die Menschen "akzeptabel und machbar" sein. Zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine räumte Hahn ein, dass in der EU wahrscheinlich die Bereitschaft von Präsident Wladimir Putin unterschätzt worden sei, "einen konventionellen Krieg vom Zaun zu brechen."
In den Jahren vor dem "Aggressionskrieg Russlands" war die Ukraine - auch wegen eines Freihandelsabkommens mit der EU - "in einer Boomphase, die wirklich sensationell war", resümierte Hahn. In Gestalt der Ukraine hätten Freiheit und Wohlstand begonnen, ganz massiv an die Grenzen des russischen Machthabers Wladimir Putin anzuklopfen. "Das hat er möglicherweise als Bedrohung empfunden." Ob die Ukraine als ein nach dem Krieg möglicherweise geteiltes Land tatsächlich eine realistische Chance habe, in die EU zu kommen, schätzte Hahn vage ein: "Jetzt muss sich die Ukraine konzentrieren, den Krieg zu beenden." Es sei aber wichtig, dass gerade die Bevölkerung mit der konkreten Beitrittsperspektive etwas Realistisches vor Augen habe, damit sich dieser Einsatz lohne.
Keine Tipps für Brunner
Der Samstag ist letzter Arbeitstag Hahns nach 15 Jahren als österreichischer EU-Kommissar. Am 1. Dezember tritt Hahns Parteifreund, Ex-Finanzminister Magnus Brunner, sein Amt als EU-Migrationskommissar in Brüssel an.
Dass der ehemalige Finanzminister am Sonntag in der EU-Kommission das Migrationsressort übernimmt, bewertete Hahn positiv. In der Migrationsfrage gebe es noch immer unterschiedliche Auffassungen. Brunner bringe aber alle Voraussetzungen mit, die unterschiedlichen Interessenslagen unter einen Hut zu bringen. "Wichtig ist nur, dass man auch in Österreich versteht, er ist jetzt nicht der Superbotschafter Österreichs, sondern er ist ein europäischer Funktionsträger und hat die Interessen von ganz Europa wahrzunehmen. Das wird nicht immer hundertprozentig identisch sein mit den österreichischen Interessen." Tipps wollte Hahn seinem Nachfolger und Parteifreund keine geben, weil dieser eine internationale Ausbildung und auch sehr viel europäische Erfahrung habe. Auf die Frage, ob er weiterhin politisch aktiv bleiben werde nach seinem Ausscheiden aus dem Amt, sagte Hahn: "Interessiert ja, aktiv nein."