Aufrüstung der EU: Laut Experte EU nicht auf Angriff vorbereitet
Angesichts multipler globaler Krisen und Konfliktherde von der Ukraine bis Nahost will die Europäische Union ihre Verteidigungskapazitäten stärken: Nicht nur ihr Außenbeauftragter Josep Borrell ist ein vehementer Verfechter einer stärkeren europäischen Rüstungsindustrie. Dazu müssten Produktionskapazitäten ausgebaut und gemeinsame Einkäufe der EU-Staaten forciert werden. Dass die EU mehr Geld für Verteidigung ausgeben muss, ist klar, aber nicht, woher das Geld kommen soll.
Nach Ansicht von Borrell ist die europäische Verteidigungsindustrie "wettbewerbsfähig": Sie deckte laut Europäischem Auswärtigen Dienst (EAD) vor dem Krieg in der Ukraine etwa 40 Prozent des Verteidigungsbedarfs der europäischen Armeen, und exportierte etwa die Hälfte ihrer Produktion. "Der Angriffskrieg Russlands hat die große Notwendigkeit gezeigt, unsere industriellen Verteidigungskapazitäten zu stärken", betonte Borrell Anfang März anlässlich der Präsentation der EU-Verteidigungsstrategie der EU-Kommission. Die Ukraine soll eng in die Pläne eingebunden werden.
"Die EU hat, was die Rechtslage angeht, wenig Kompetenzen im harten Verteidigungsbereich, die eigentlichen Kompetenzen liegen bei der NATO", sagt Guntram Wolff, führender Ökonom beim Brüsseler Think Tank Bruegel, im Gespräch mit der APA.
Zentraler Aspekt der Verteidigungsfähigkeit sei, "schnell und in ausreichender Qualität Waffen und Munition herstellen zu können". Kurzfristig sei dies "sehr schwer: Wir müssen da kaufen, wo hergestellt wird." Die Produktion müsse "schnell nach oben gefahren" werden, damit die Kosten pro Stück sinken.
Die EU-Kommission setzt in ihrer Strategie mehrere Ziele fest: Bis 2030 sollen die EU-Staaten mindestens 40 Prozent ihrer Rüstungseinkäufe über gemeinsame Bestellungen abwickeln. Die Hälfte oder mehr der Einkäufe im Verteidigungsbereich soll zudem in Europa getätigt werden - bis 2035 soll der Mindestanteil auf 60 Prozent steigen.
Es werde vonseiten der Kommission auch betont, dass keine Waffen direkt mit Geld aus dem EU-Budget gekauft würden und die Entscheidung darüber, was gekauft wird, bei den Mitgliedstaaten bleibe.
Woher kommen die Mittel zur Aufrüstung?
Jan Joel Andersson, Chefanalyst beim Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien (EUISS), sieht eine große Herausforderung darin, genügend Geld für diese Initiativen zu finden, da der EU-Haushalt bereits "unter Druck" stehe. Zudem hätten "die Mitgliedstaaten bereits einen Großteil ihrer Beschaffungsgelder für eigene Rüstungsprojekte für mehrere Jahre gebunden."
Vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz bis zu Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron - zahlreiche EU-Staats- und Regierungschefs haben ihre nationalen Budgets für Verteidigung bereits erhöht. Auch in Österreich haben die Militärausgaben 2024 mit mehr als vier Milliarden Euro einen Rekordwert erreicht, der weiter steigen soll.
Aus dem EDIP-Programm (European defence industry programme Anm.) der EU sollen in den Jahren 2025 bis 2027 1,5 Milliarden Euro aus dem EU-Budget fließen, um etwa den Ausbau von Kapazitäten zur Munitionsproduktion zu fördern.
"Eine Summe von 1,5 Mrd. ist nichts für eine Industrie, die 70 bis 100 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr hat, das wird nicht viel bringen", meint der ehemalige Bruegel-Direktor Wolff. "Ich vermisse derzeit das Grundverständnis bei den EU-Staaten, das gemeinsame Ausgaben im Rüstungsbereich produktiv für die EU als Ganzes sind. Viel geht in nationale Projekte, und das ist ein Fehler."
Für Experte Paul Taylor vom Brüsseler Think Tank European Policy Center (EPC) hat die EU-Kommission den "richtigen Ansatz" gewählt und ist "sehr ehrgeizig". Für ihn ist "die große Frage, wie viel der Privatsektor und wie viel der Staat einbringen sollte. Es handelt sich nicht um einen klassischen freien Markt." In den meisten Ländern gebe es ein bis zwei Anbieter und einen Abnehmer, den Staat. "Wir müssen eine viel stärkere Verteidigung aufbauen, als wir sie heute haben", betont Taylor im Gespräch mit der APA. Der Grund sei "die Vermeidung, nicht die Führung eines Krieges".
Verteidigungsexperte sieht EU nicht auf Angriff vorbereitet
Der Verteidigungsexperte Daniel Fiott sieht die Europäische Union nicht auf einen militärischen Angriff vorbereitet. Ein solcher Angriff sei derzeit "unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich", sagte der Brüsseler Politikwissenschafter im APA-Interview. "Das bedeutet, dass wir die Situation ernst nehmen sollten." Zwar sei die EU-Verteidigungspolitik schon jetzt nicht nur symbolisch, "aber ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die EU auf eigene Faust handeln würde."
Fragen sieht der Professor am Zentrum für Sicherheit, Diplomatie und Strategie an der Brussels School of Governance auch, was die Kooperation mit dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis NATO betrifft. "Wir sind heute in Europa nicht vorbereitet auf eine Koordination oder Kooperation von EU und NATO im Fall eines militärischen Angriffs", sagte Fiott. Er wies darauf hin, dass die meisten EU-Staaten auch der NATO angehören und vermutlich sowohl die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des NATO-Vertrags als auch jene nach Artikel 42.7 des EU-Vertrags aktivieren würden. Dies würde eine gemeinsame Antwort von EU und NATO erforderlich machen, "aber es gibt keinen institutionellen Mechanismus zur Regelung dieser Antwort".
Neutralitätsfrage
"Viel nachdenken" müsste man indes über das Szenario im Fall der neutralen EU-Staaten (Irland, Österreich, Malta und Zypern), die sich nur auf den EU-Vertrag berufen könnten. Schließlich verpflichte dieser Artikel nicht die Europäische Union als solche zu einer "institutionellen Antwort", sondern ruft lediglich die einzelnen EU-Staaten zum gegenseitigen Beistand auf, erläuterte Fiott. Zwar seien die neutralen Staaten nicht zum militärischen Beistand verpflichtet, doch würde eine Berufung ihre Solidarität infrage stellen.
"Deshalb denke ich, dass auch die neutralen Staaten über ihre Reputation nachdenken werden, bevor sie (militärische) Hilfe verweigern", sagte der gebürtige Maltese. Faktisch würden die neutralen EU-Staaten aber "nur eine sehr geringe Rolle" bei der Bereitstellung militärischer Kapazitäten spielen, fügte er hinzu.
"Auf EU-Gipfeln wird jetzt ständig über Verteidigung gesprochen. Jeder Gipfel wird von der Verteidigung dominiert", sagt der ehemalige NATO-Sprecher Jamie Shea zur APA. Er sieht "viele Überschneidungen mit der NATO". Zur Stärkung ihrer Rüstungsindustrie empfiehlt er der EU "Syndikate bilden, die systematische Suche nach den Lücken, z.B. in der ballistischen und der Luftabwehr". Es brauche eine "unmittelbare und eine längerfristige Strategie".
"Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass nicht alle Mitgliedstaaten davon überzeugt sind, dass die Kommission eine größere Rolle im Bereich der Verteidigungsindustrie spielen sollte", so Sicherheitsexperte Andersson gegenüber der APA. In der Praxis sei (Binnenmarktkommissar, Anm.) Thierry Breton seit einigen Jahren der "Kommissar für die Verteidigungsindustrie" der EU. "Der Punkt ist, dass der nächste Kommissar, welchen Titel er auch immer haben wird, mit einem bedeutenden Budget und Verantwortungsbereich ausgestattet sein muss, um etwas zu bewirken."
Um mehr Geld auf EU-Ebene zu mobilisieren, sind die Europäische Investitionsbank (EIB) oder der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) im Gespräch: So wurde die EIB vom EU-Gipfel im März aufgefordert, "ihre Politik für die Kreditvergabe an die Verteidigungsindustrie und ihre derzeitige Definition von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck ("dual use"-Güter für zivile und militärische Zwecke; Anm.) anzupassen". Die Kommission soll zudem dem EU-Gipfel im Juni weitere Finanzierungsmöglichkeiten präsentieren. Zudem gibt es Überlegungen, der Rüstungsindustrie Kredite aus dem ESM ("Euro-Rettungsschirm"), der eigentlich verschuldete Euro-Staaten vor dem Bankrott retten soll, zu gewähren. Rund 400 Milliarden Euro wären hier verfügbar.
Niemand wird Österreich zur Aufgabe zwingen
"Da ich aus Schweden komme, kann ich Ihnen sagen, dass die militärische Neutralität schon vor langer Zeit ihre Bedeutung verloren hat", sagt Andersson zur Rolle neutraler Staaten wie Österreich in der Debatte. Aber: "Ich glaube auch nicht, dass jemand Österreich zwingen wird, sie aufzugeben. Es ist eine österreichische Entscheidung, und die Österreicher müssen entscheiden." Wolff ist da anderer Meinung: Er sehe "das Neutralitätsthema aus der Perspektive eines Deutschen": Heraushalten funktioniere nicht. Er sieht sehr wohl Druck der EU-Partner auf Österreich, die Neutralität aufzugeben, "und der sollte auch da sein." Taylor ortet keinen Druck, aber die "Erwartung, dass Österreich nicht im Weg steht".