Orbán-Rede und heftige Debatte im EU-Parlament: "Sie sind Ungarns Vergangenheit!"
Von Caroline Ferstl
Mit Spannung ist die heutige Sitzung des Europaparlaments in Straßburg erwartet worden: Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán hielt eine Rede zum aktuellen ungarischen EU-Ratsvorsitz, den Budapest seit 1. Juli bis Ende des Jahres innehat. In der anschließenden Debatte gab es wie erwartet einen harten Schlagabtausch. "Viele erinnern sich an die letzte lebhafte Debatte mit Ungarn vor sechs Jahren. Ich erwarte heute nicht weniger", eröffnete die EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola die Sitzung.
"Ich bin hier für einen Weckruf. Die EU muss sich ändern, ich will Sie davon überzeugen", so Orbán einleitend. Während seiner Rede hielt sich Orbán rhetorisch zurück, nicht aber mit Kritik an der EU-Politik. Das Thema Migration nahm einen großen Teil seiner Redezeit ein. "Die illegale Migration steigt, genauso wie der Antisemitismus, die Gewalt gegen Frauen und Homophobie." Im eigenen Land stellt sich der ungarische Ministerpräsident gegen LGBTQ-Rechte, im EU-Parlament nutzte er die Diskriminierung von Homosexuellen als Argument für scharfe Maßnahmen gegen Migration.
"Nichts hat funktioniert"
"Die Migrationskrise war seit 2015 nie so groß wie heute." Orbán verlangte mehr Unterstützung für den Schutz der EU-Außengrenzen – "seit 2015 führen Ungarn und ich selbst eine lebhafte Debatte über Migration. Wir haben Maßnahmen, Pakete und Deals gesehen, und nichts hat funktioniert", so Orbán. Der Schengen-Raum könnte aufgrund illegaler Migration auseinanderfallen. Er forderte einmal mehr Zentren an der EU-Außengrenze in Drittstaaten für Migranten.
Orbán, dem von der EU regelmäßig eine pro-russische Haltung vorgeworfen wird, sprach von Sicherheitskrisen auf der Welt, die ein Risiko für Europa darstellten, unter anderem von dem Krieg in der Ukraine – ohne Russland namentlich zu nennen.
Andere Themen der Rede waren europäische Landwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit – Orbán zitierte wiederholt den früheren Präsidenten der Europäischen Zentralbank und italienischen Ministerpräsidenten, Mario Draghi, der zuletzt in einem Bericht von der EU mehr Investitionen verlangte, um global mithalten zu können. Als positives Wirtschaftsbeispiel der EU nannte Orbán die heimische Batterie-Branche, die Ungarn aufbaue und die nicht selten auch für Kritik sorgt.
"Make Europe Great Again"
Orbán kritisierte die Abkehr vom russischen Gas, was zu einem erheblichen Rückgang des BIP geführt habe: "Geben wir uns nicht der Illusion hin, dass der grüne Übergang allein das Problem lösen wird." Prognosen zufolge würde die Nutzung fossiler Brennstoffe durch die Klimapolitik der EU nicht wesentlich zurückgehen. Europäische Unternehmen würden weniger für Forschung und Entwicklung aus als ihre US-Konkurrenten, insbesondere wenn es um digitale Technologien geht.
"Wir wünschen uns eine Verringerung des Verwaltungsaufwands, weniger Regulierung, Energiesicherheit, grüne Industriepolitik, Stärkung des Binnenmarktes, eine Ausweitung der Handelspolitik, keine Blockbildung", so Orbán. Zudem sprach sich Orbán für einen raschen EU-Beitritt Serbiens und eine Vollmitgliedschaft Rumäniens und Bulgariens im Schengen-Raum, die bisher von Österreich blockiert wird, aus. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić gilt als ideologischer Verbündeter Orbáns in vielen politischen Fragen.
Seine Rede beendete Orbán mit den Worten "Make Europe Great Again" in Anlehnung an Donald Trumps "Make Amerika Great Again", den Orbán im Präsidentschaftswahlkampf offiziell unterstützt. Von den rechten bis rechtsextremen Fraktionen erhielt Orbán mehrmals Beifall für seine Rede.
Die Erste, die auf Orbáns Rede reagierte, ist EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Die EU ist hier für die ungarische Bevölkerung. Sie hat eine vollständige Mitgliedschaft sowie Zugang zu allen EU-Geldern verdient“, so von der Leyen angesichts der EU-Gelder, die Brüssel wegen Verstöße Ungarns gegen EU-Recht zurückhält. Bezug nehmend auf Ungarns pro-russische Haltung fragte von der Leyen: "Würden Sie auch den Ungarn die Schuld geben für die Invasion der Soviets 1956 in Ungarn?" Die EU-Kommissionspräsidentin kritisierte die höhere Besteuerung ausländischer Unternehmen in Ungarn angesichts Orbáns Plädoyer für einen stärkeren europäischen Einheitsmarkt sowie die Freilassung Hunderter Schlepper aus ungarischen Gefängnissen im Vorjahr: "Sie werfen die Probleme über den Zaun zu Ihrem Nachbarn." Von der Leyen richtete ihre abschließenden Worte an die ungarische Bevölkerung: "Wir sind eine Familie."
"Sie sind die Vergangenheit Ungarns"
Nach von der Leyen waren die Vorsitzenden der einzelnen Fraktionen am Wort: Besonders scharfe Worte gab es auch von dem Fraktionsvorsitzender der EVP, der Orbáns Fidesz-Partei einst angehörte, Manfred Weber: Er sprach Orbán zu Ungarns Position gegenüber der Ukraine an: Wie könne er als "einstiger Kämpfer für die Freiheit" derart gegen Solidarität sein? Orbáns "Friedensmission" Anfang Juli, die Orbán zu Wolodimir Selenskij, Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump führte, nannte er eine "große Propaganda-Show". Implizit nannte er den ungarischen Regierungspräsidenten eine "Marionette Xis und Putins".
"Die ungarische Korruption zerstört Ungarn", so Weber weiter. Seit den EU-Wahlen sitzt auch der populäre ungarische Oppositionspolitiker Péter Magyar im Europaparlament und ist nun Mitglied von Webers EVP. Ihn nannte Weber "Ungarns Zukunft", "Sie sind die Vergangenheit", schloss er seine Wortmeldung an Orbán gerichtet.
Terry Reintke, Ko-Vorsitzende der Grünen Fraktion im Europäischen Parlament, kommentierte Orbáns Rede: "Sie sind hier nicht willkommen. Sie sind der Diener eines brutalen und gefährlichen Diktators, Wladimir Putin. Sie haben klar gemacht, welche Interessen Sie vertreten. Sie sollten hier nicht stehen und so tun, als hätten Sie noch eine demokratische Zelle in Ihrem Körper."
Lob für Orbán gab es von Rechts bis Rechtsaußen: Der AfD-Politiker René Aust, Vorsitzender der neuen Fraktion "Europa der Souveränen Nationen", der rechtsextreme Kleinparteien angehören, verlangte "Respekt für Orbán, als einer der ersten, der sich Migration stellt", und im "Ukraine-Konflikt Bereitschaft zur Diplomatie" signalisiere – "Schritte, die früher Deutschland gemacht hätte".
FPÖ-EU-Mandatar Harald Vilimsky entschuldigte sich in seinem Kommentar bei Orbán für die "Lügen" und "Flegeleien" die dieser sich habe anhören müssen und bezeichnete den ungarischen Regierungschef als "Retter Europas".
"Intifada gegen Ungarn"
Orbáns Reaktion auf die Kommentare der EU-Parlamentarier fiel heftig aus. Ein derartiger Angriff auf ein EU-Land sei "nie zuvor passiert". Weber warf er vor, persönlich beleidigt zu sein, weil dessen Partei nicht ähnlich erfolgreich sei wie Orbáns Fidesz – sowie eine "persönliche Kränkung, weil Sie nicht EU-Kommissionspräsident sind". Kritik von links nannte er eine "Intifada gegen Ungarn", "Lügen" und "reine politische Propaganda". Den Vergleich der ungarischen Bevölkerung 1956 und der Ukrainer angesichts der russischen Invasion 2022 lehnte er vehement ab. Zur Zurückhaltung der EU-Gelder sagte er, das seien Gelder, "die zu 80 Prozent zurück gehen in eure Taschen, in eure Unternehmen." Den EU-Parlamentariern warf er Provokation vor: "Wenn Sie uns attackieren, werde ich mein Land verteidigen".
Auch ungarische Oppositionspolitiker nutzten die Anwesenheit des Ministerpräsidenten. "Zumindest hier kann ich Sie konfrontieren", so etwa Péter Magyar. Der Oppositionspolitiker warf Orbán Lügen, Korruption und die Vernachlässigung der ungarischen Bevölkerung vor, "Sie bringen asiatische Arbeitskräfte nach Ungarn, während die eigene Bevölkerung abwandert. (...) Sie erhöhen die Gehälter der Minister um 30 Prozent, was ist mit den anderen Menschen?" Das Mindesteinkommen betrage 668 Euro, weit weniger als in Rumänien, Polen oder der Slowakei. Man fürchte sich nicht vor Orbán, "wir werden unsere Ziele erreichen."
Die ungarische Oppositionspolitikerin Klara Dobrev von der S&D-Fraktion warf Orbán vor, sich weit "von der Wahrheit entfernt" zu haben. "Womit erpressen Sie die Russen?"
Protest gegen Orbán
Nach Orbáns Rede stimmten linke EU-Parlamentarier aus Protest das italienische antifaschistische Lied "Bella Ciao" an, die Hymne der italienischen Widerstandskämpfer gegen den Faschismus. Metsola reagierte mit: "Das hier ist nicht der Eurovision Song Contest."
Auch die Pressekonferenz von Orbán in Straßburg am Vortag war kurzzeitig von Protest gestört worden: Orbán hatte der EU unter anderem "Erpressung" und "Heuchelei" vorgeworfen. Er reagierte damit auf Kritik an seiner pro-russischen Politik sowie auf den Ausschluss Ungarns von EU-Programmen wie Erasmus. Europaabgeordnete nannten Ungarns Ratsvorsitz im Gegenzug einen "Totalausfall" und bezeichneten den Rechtsnationalisten als geistigen "Brandstifter".
Gestört wurde die Pressekonferenz von einem Aktivisten und Oppositionspolitiker, der Orbán Korruption vorwarf. "Für wie viel haben Sie das Land verkauft?", schrie er, bevor er kurz danach festgehalten wurde.